In unregelmäßiger Folge veröffentlichen wir: Einschätzungen, Erfahrungen, Ermutigendes, Kritik und Nachdenkliches.
Den Anfang macht Uli Frank mit „20 JAHRE KRISIS“
Etwas versteckt in der Bielefelder Altstadt liegt der linke Buchladen „Eulenspiegel“. Dort fragte ich vor ca. 20 Jahren, ob es ein interessantes neues Buch gebe. „Ja, allerdings!“ antwortete der Kollege dort ohne zu Zögern und zeigte mir: „Robert Kurz: Kollaps der Modernisierung“ (Ausgabe 1994, Reclam).
Es faszinierte mich sofort. Der Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ hatte mich unterschwellig schwer getroffen, auch wenn ich kaum mehr als Mitleid mit der gut gemeinten, aber hässlich geratenen System-Alternative im Osten hatte: Wie für viele andere Linke, die ihre Politisierung den 68-ern verdankten, lieferte die DDR doch so etwas wie ein konkretes Beispiel, dass „es“ auch irgendwie anders gehen könnte.
Mit dem Ende des „Sozialismus“ schien Fukuyamas „Ende der Geschichte“ recht zu bekommen.
Die Kapitulation des real existierenden Sozialismus wurde zwar einerseits als historischer Sieg des Kapitalismus über den Rest der Welt gefeiert (endgültig: „TINA“), aber die Wut, mit der die DDR abgewickelt wurde, hatte auch etwas von einem Beschwörungsritual: Selbstzweifel sollten nicht aufkommen.
Robert Kurz zerpflückte diese systemische Selbstverherrlichung in seinem Buch gründlich und prognostizierte dem westlichen Kapitalismus den Zusammenbruch nur wenig später.
Für mich überzeugend zeigte er, dass die DDR (stellvertretend für den damals „real existierenden Sozialismus“) nicht als die Alternative zum Kapitalismus unterging, sondern gerade wegen ihrer grundsätzlichen Ähnlichkeit mit ihm und als die schlechtere Variante desselben Systems.„Der tiefe Irrationalismus des warenproduzierenden Systems kann nur mit diesem selbst beseitigt, aber nicht als solcher vernünftig geplant werden.“ (Kollaps der Modernisierung, S.126)
Dem traditionellen Marxismus und der Arbeiterbewegung stellte er ein vernichtendes Urteil aus. Er spricht von der „Verhausschweinung der Arbeiterklasse“. Seine Kritik am Klassenkampf-Paradigma passte gut zu unseren (Sponti-) Erfahrungen aus der Studentenbewegung und gab neuen Mut.
Die ersten leibhaftigen Menschen des KRISIS/Zusammenhangs traf ich ca. 1996 beim Krisis-Seminar im Jagdschloss Göhrde.
Ich hatte mir die dort zusammen Gekommenen als engagierte Theoretiker und spannende Gesprächspartner vorgestellt. Theorie gab es viel – Gespräche weniger. Die ganze Veranstaltung erschien mir noch recht traditionsmarxistisch: Eine kleine Elite von Theoretikern präsentierte der nächst niedrigeren Mitgliederebene ihre Forschungsergebnisse, die sie in deren Auftrag und mit deren finanzieller Förderung in einem Jahr herausbekommen und zusammengestellt hatte. Das Ganze wirkte zwar nicht so autoritär wie beim Gegenstandpunkt, wo die Jünger wie in der Schule abgefragt werden und sich beim Rauchen nach dem Vorbild des oben thronenden Podiums richten.
Aber ich fühlte mich keineswegs willkommen und hatte regelrecht Mühe, bei der eher freudlosen Abendveranstaltung überhaupt einen Platz an den Tischen der alten Hasen zu ergattern. Geschweige denn, jemand hätte mich beachtet und eingeführt.
Die Tage blieben anstrengend und dem selbst gewählten Auftrag angemessen – schließlich ging es ja auch um alles oder nichts: Es galt die Voraussetzung für die Abschaffung des Kapitalismus endlich theoretisch richtig und unangreifbar zu formulieren.
Diese harte und welthistorisch bedeutende Arbeit musste natürlich gemäß der alten Tradition der dogmatischen Linken den Männern überlassen bleiben: Jedenfalls waren Frauen krass unterrepräsentiert. Und gerade eine dieser wenigen Frauen war es, von der ich lernte, wie die Arbeitskritik von KRISIS zu verstehen ist.
Sie brachte das für einen Theorie-Verein eigentlich zu anschauliche Beispiel zweier Personen, die sich zufällig auf der Straße begegnen. Die eine fragt die andere: „Was machst Du?“ Antwort „Ich gehe arbeiten!“ Die erste daraufhin und mit der Auskunft völlig zufrieden: „ach so!“
Inhaltlich bleibt die Antwort völlig nichtssagend, aber sie reicht trotzdem aus, um sich etwas Inhaltliches ausreichend gut vorstellen zu können: eine Tätigkeit unter besonderen Bedingungen, z.B. für einen bestimmten Zweck, typischerweise gegen Geld, um sein Leben fristen zu können, wahrscheinlich in einer hierarchischen Struktur mit festen Zeitvorgaben u.s.w. Also Arbeit als eine besondere gesellschaftliche Form, eine abgetrennte „Sphäre der abstrakten Zeit“ (Manifest gegen die Arbeit).
Die für mich schönsten Krisisseminare fanden in der fränkischen Kleinstadt Marktbreit statt. Auf dem gegenüber liegenden Mainufer gab es eine Gartenwirtschaft, in der wir uns nach der „Arbeit“ fast alle versammelten ohne große Verabredung und es uns gemeinsam gut gehen ließen. Das war einige Jahre vor der schlimmen Spaltung in Krisis und Exit 2004, die fast unheilbare Verletzungen verursachte, Freunde zu Feinden machte. Diese Bereitschaft zu böser Polemik, menschlich verletzenden Auseinandersetzungen und brutalen Spaltungen erlebte ich immer wieder als ganz besonderen Makel der radikalen Linken. Unentwegte intellektuelle Anstrengungen gegen den gesellschaftlichen Mainstream und ohne eine allgemeine akademische Anerkennung führen wohl leicht zu Rechthaberei und Intoleranz.
In Marktbreit war davon noch nichts zu spüren und Robert Kurz hielt wie immer als Höhepunkt des Seminars das Abschlussreferat am Sonntag morgen um 11:00 Uhr. Für dieses Ereignis kamen stets neue Zuhörer von draußen.
In Marktbreit stand auch das „Abspaltungstheorem“ im Mittelpunkt:
Wenn die Systemlogik des Kapitalismus so geschlossen ist, Denken, Handeln und Fühlen der Subjekte so infiziert von der herrschenden Logik – wo kann da überhaupt so etwas wie eine Vorstellung von Transformation entstehen.
Und: hatte nicht jeder trotz der Totalität auch andere Erfahrungen gemacht, wie Liebe, Vertrauen, Zuwendung ohne Hintergedanke, tätig sein aus Überzeugung, freiwillig…
Ich sehe noch, wie Robert Kurz mit Kreide drei Kreise an die Tafel malte: Links den Kreis, der die kapitalistische Logik umrahmte. Daneben den zweiten, der das abgespaltene „Andere“ kennzeichnen sollte und um beides herum einen weiteren großen Kreis um zu zeigen, dass die Abspaltung gerade eine notwendige Funktion für das Gesamtsystem darstellt: ohne diese zweite Logik, die andere Wünsche und Bedürfnisse der Menschen abdeckt, könne das nicht primär an den menschlichen Bedürfnissen orientierte System der Wertverwertung nicht funktionieren.
Hinter den dicken Mauern des Zinzendorfhauses in Neudietendorf 2005 erklang um Mitternacht die Kunst der Fuge von Johann Sebastian Bach. Auf dem dortigen Krisis Seminar erläuterte Eske Bockelmann seine Entdeckung am Beispiel der Bach’schen Kompositionen: Um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert wurde zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte im Takt-Rhythmus komponiert – seitdem eine global verbreitete Selbstverständlichkeit. Musik im Taktrhythmus zu empfinden ist ein Reflex, unbewusst, nicht aus irgendeiner Verstandesleistung abzuleiten. („Kein Philosoph konnte und kann, indem er noch so durchdringend auf seine Gegenstände blickt, in den Blick bekommen, was schon seinen Blick bestimmt…“ Klappentext)
Wie konnte ein solcher Reflex entstehen? Bockelmanns Entdeckung: es gibt keine andere Erklärung dafür, als dass die Logik des Geldes diese neue Prägung schaffte. Für ihn ist die Herrschaft des Geldes als funktionale Abstraktion das entscheidende Merkmal der Neuzeit. Und die Logik des Geldes erzwingt den entsprechenden Reflex.
Eske Bockelmann fand ich herausragend, wie konsequent und systematisch er den qualitativen Sprung zwischen Mittelalter und Neuzeit behandelt. Nirgendwo habe ich so anschaulich und trennscharf das Neue der Neuzeit, das Moderne der Moderne dargestellt gelesen und verstanden. Allerdings – obwohl Bockelmann ein profunder Kenner der Wert-Kritik ist – hält er die Geld-Logik für ein gesellschaftlich produziertes Verhältnis ohne auf die abstrakte Arbeit und die Arbeitswerttheorie zurück zu greifen.
Dieser Verzicht scheint mir nicht nur möglich, sondern sinnvoll, weil ich auch immer mehr glaube, dass die Zusammenbruchtheorie von Krisis, die sich auf die Arbeitswerttheorie stützt, in Zeiten des postindustriellen Kapitalismus immer weniger plausibel wird. Zwar leisten Ernst Lohoff und Norbert Trenkle Bewundernswürdiges, um den „provisorischen Aufschub einer fundamentalen Krise der kapitalistischen Gesellschaft“ (Klappentext von „Die große Entwertung“) zu analysieren und zu erklären. Aber ich gehe davon aus, dass noch weitere Korrrekturen der ursprünglichen Zusammenbruchstheorie notwendig werden.
Dieses Thema war und ist natürlich – wie schon der Name „Krisis“ sagt – auf fast allen Seminaren ein Dauerbrenner: an irgend einer Stelle auf jedem Seminar wurde als running gag darüber gewitzelt, an welcher Stelle der Zusammenbruchsgeschichte wir uns gerade befinden – z.B. in Analogie zu einem Fußballspiel. 2009 auf Burg Hohenheim fielen die meisten Schätzungen auf die erste Hälfte der zweiten Halbzeit. Später schliefen solche Prophezeiungen ein.
Während der großen Krise um 2009 herum saßen viele Wertkritiker fasziniert am Bildschirm, um das Abstürzen der Kurse weltweit mit gar nicht klammheimlicher Freude zu verfolgen. War das der finale Zusammenbruch, die Erfüllung der Krisis-Prophezeihungen? Aber schon bald war vom Aufschwung die Rede – sogar XXL sollte er ausfallen, wie reichlich großspurig angekündigt wurde. Staat und Kapital hatten alles in die Entscheidungsschlacht geworfen, um eine Destabilisierung des Systems zu vermeiden – mit (vorläufigem) Erfolg und unendlich viel Geld. Kurz nach der Krise kamen schon wieder die ersten Siegesmeldungen: die Arbeitslosigkeit sei so niedrig wie lange nicht mehr, das Vertrauen in die europäische Führungsmacht Deutschland ungebrochen bzw. sogar gestärkt und selbst „Schrott-Länder“ wie Griechenland oder Italien und Spanien konnten die allgemeine Erholung von der Krise nicht aufhalten.
Jedenfalls: Ob das System von sich aus zum Zusammenbruch neigt oder nicht – substanziell wichtiger und überzeugend erschien und erscheint mir immer noch die radikale Wertkritik der Krisis-Gruppe und der Streifzüge.
Sie hat mich von Anfang an so fasziniert, dass ich einen Artikel von Franz Schandl 1999 als Abitur-Aufgabe an meinem Gymnasium stellte und auf die Art auch mit ihm in Kontakt kam.
Oder meine Begeisterung lässt sich daran ablesen, dass ich anlässlich einer Vortragstournee Robert Kurz bis Freiburg und Basel nachreiste, um seinen wertkritischen Vortrag mehrmals zu hören.
Als Robert Kurz in den Räumen des SSM in Köln referierte, war ich selbstverständlich auch dort. Wie immer, beeindruckte er mich nicht nur durch seine spannende und unglaublich kenntnisreiche Art des Vortrags, sondern auch durch sein bescheidenes menschenfreundliches Auftreten. Nach dem Vortrag unterhielt ich mich mit Heinz Weinhausen darüber, was wir bei der Krisis-Gruppe am wichtigsten fänden. Ihn faszinierte besonders die Zusammenbruchstheorie, mich die radikale Wertkritik.
Vielleicht lässt sich die Krisis-Anhängerschaft insgesamt nach diesem Kriterium und ihrem entsprechenden Interessenschwerpunkt unterscheiden.
Zu den eher dogmatischen Behauptungen von Krisis, gehörte etwa die, dass die Verwahrlosungserscheinungen des Zusammenbruchs zu Banden führen müssten z.B. in Russland und auch in Österreich in Gestalt von Haider und seiner FPÖ-Bande. Diese Seite von Krisis fand ich immer schon überzogen und erklärte sie mir aus der Tradition der alten K-Gruppen, aus denen viele Krisis-Anhänger kommen.
Obwohl die Krisis-Autoren immer wieder beteuern, dass die Verlaufsform des Zusammenbruchs nicht vorhersehbar sei, wird doch unverhältnismäßig viel Energie auf den Niedergang verschwendet und ausschließlich auf die negativen Erscheinungen. Dagegen bleibt eine Analyse von „Keimformen“ tabu, obwohl Robert Kurz dieses Stichwort selber einmal in die Debatte warf (und sofort wieder zurück zog).
Interessant wie sich die die Träger einer Transformation heute von den früheren unterscheiden. Während früher hauptsächlich Soziologen, Theologen, Psychologen – also „Geisteswissenschaftler“ – beteiligt waren und führend in der Theoriebildung, sind es heute eher die Informatiker, die Biologen und teilweise sogar die Physiker und Mathematiker, die mit einem neuen Weltbild und mit neuen Kategorien an die Interpretation der Welt gehen und die teilweise über die ökologische Frage zu einer sprechenden Kapitalismuskritik gekommen sind. Gerade hier in den Naturwissenschaften, nicht in den Geisteswissenschaften, kann man heute von einem Paradigmenwechsel sprechen, der zwar nicht die gesamte Wissenschaft ergreift, aber doch interessante und beachtete Gegenpositionen zum Mainstream entstehen lässt. Gesellschaftkritische Naturwissenschaftler bzw. Informatiker tauchten nach meiner Beobachtung auch vermehrt bei den Krisis-Seminaren auf – z.B in Mühlrain.
Allmählich bin ich in verschiedenen Zusammenhängen oft der älteste und es passiert nicht selten, dass ich Projekte sehe, die sich selbst als ganz neu und transformatorisch ansehen, aber mich stark an uralte Experimente und Diskurse der Studentenbewegung erinnern. Sie dümpeln seit 40 Jahren vor sich hin ohne ihre gesellschaftliche Nische jemals verlassen zu haben. Deswegen messe ich inzwischen dem Erfolg und der Verbreitung einer neuen Idee große Bedeutung zu, was populistisch klingen mag.
Es gibt nämlich sehr erfolgreiche Neuigkeiten, die Krisis leider notorisch unterschätzt bzw. ignoriert mit dem stereotypen Einwand, es handle sich bloß um systemimmanente Korrekturen, die die kapitalistische Verwertungslogik nicht anrühren würden und denen deshalb jede transformatorische Qualität fehle.
Paradebeispiel ist für mich (und ganz oben auf der Liste keimformverdächtiger Erfolgsgeschichten) die Freie-Software-Bewegung, deren Prinzipien ich immer wieder transformatorisch richtungweisend finde, wie die Freiwilligkeit des eigenen Beitrags, Selbstorganisation, Offenheit, Rolle des Maintainers, die peer-Struktur usw. Ebenfalls transformatorisch interessant finde ich das Prinzip „Flatrate“ bzw. „all-inclusive“, das exemplarisch innerhalb eines abgekauften Bereichs schon heute ein Leben mit freier Nutzung gesellschaftlichen Reichtums vorweg nimmt – orientiert an den je eigenen Bedürfnissen und nicht vermittelt über den Wert.
Die kapitalistische Geldlogik in ihrem Zwang, Kunden und Absatzmärkte zu finden, verhält sich ja objektiv opportunistisch. Sie ist nicht auf permanente Schrott-Produktion angewiesen, sondern kann alles, wenn sich damit Geld verdienen lässt. Also werden auch gesellschaftliche Bedürfnisse aufgegriffen, die durchaus emanzipatorische Qualität haben und weder vom Staat noch von der „Wirtschaft“ erfunden wurden. Auch die Seite der Produktion verändert sich ständig: Was Firmen heute ihren „Mitarbeitern“ bieten müssen an Freiheiten, Selbstbestimmung, Ausbildung in Psychologie, Gruppendynamik, Coaching, die Entdeckung (und Nutzung) menschlicher Qualitäten (Toyota), was aus Angst vor Image-Schäden an Zugeständnissen gemacht werden muss usw.
All das schafft (noch) nicht das Prinzip der Wert-Verwertung ab, aber verändert doch gesellschaftliche Bedingungen und das Bewusstsein von Menschen.
Das Internet als technische Revolution bewirkt auch soziale Umwälzungen, das Sharing-Prinzip propagiert den transformatorischen Grundsatz: Nutzung statt Eigentum. So produziert das System selber immer mehr auch Irritationen und Kritik an seinem funktionalen Kern.
Oder was bedeutet das für die Werttheorie, wenn heute ganz andere Wert-Größen und Formen eine Rolle spielen als im Industriekapitalismus: die größten Konzerne der Welt, die den größten „Marktwert“ als Marke haben, z.B. Google (die gerade „Apple“ überholte) oder Facebook sind wertmäßige Riesen, die mit einem Bruchteil der Belegschaft traditioneller Firmen Geld verdienen. Das Schwarzbuch-Prinzip von Krisis neigt dazu, den Hinweis auf solche neuen Technologien und Organisationsformen, die innerhalb der kapitalistischen Logik entstehen als unangebrachten Optimismus zu verstehen. Aber ich fürchte, dass die einseitige Betonung der Kritik eher den neoliberalen Pessimismus „T.I.N.A.“ verstärkt als den Blick für neue Möglichkeiten und Fähigkeiten der Menschen öffnet. Geht es doch darum im Niedergang bereits die Transformation zu beflügeln…
Deshalb fasziniert mich aktuell Jeremy Rifkins Buch: Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft. Rifkin fokussiert sich gerade auf diese neuen Entwicklungen seit Mitte der 70er Jahre und prüft im Detail, ob und inwieweit sie transformatorisches Potential enthalten. Zwar analysiert er nicht so gründlich wie Krisis den funktionalen Kern des Systems, aber aus vielen seiner Begründungen geht hervor, dass auch er eine wertkritische Position vertritt und einen qualitativen Sprung erwartet. Hier das Inhaltsverzeichnis des ersten Kapitels:
„Der große Paradigmenwechsel – Vom Marktkapitalismus zu den kollaborativen Commons – Der Niedergang des Kapitalismus – Die Ablösung des ökonomischen Paradigmas – Das Internet der Dinge – Der Aufstieg der kollaborativen Commons“
Rifkin traut dem System eine relativ hohe Innovationskraft zu, was ich sehr realistisch finde. Es erinnert mich an die Hegelsche „List der Vernunft“, nach der ein System seine von ihm selbst verursachten Probleme und Widersprüche durch Neuerungen und Variationen kreativ zu lösen versucht und dabei unbewusst und ungewollt die Grundlagen des eigenen Systems untergräbt. Dass Krisis diese immanente Fähigkeit des Systems zu schöpferischer Zerstörung mit anschließender Neuschöpfung nicht ernst nimmt, halte ich für einen Fehler.
Zur Illustration das Protokoll vom Seminar auf Burg Hoheneck bei Nürnberg 2009:
Norbert Trenkle hält das „Wort zum Sonntag“
„ …Worin besteht die Perspektve?
Die Perspektive kann nur noch darin bestehen, die gesellschaftlichen Reichtumspotentiale und den stofflichen Reichtum gegen die Form des abstrakten Reichtums anzueignen und damit neue Formen zu entwickeln gesellschaftlicher Kommunikation und Entscheidungsfindung über Produktion und Verteilung… Das kann nicht von heute auf morgen durchgesetzt werden, es bedarf Schritte einer Organisierung gegen die kapitalistische Logik.
Das ist jetzt sehr abstrakt gesagt. Ich will es auch nicht zu sehr konkretisieren.
Der Ausgangspunkt kann nur das radikale „Nein!“ sein gegen die Opferung der Welt auf dem Altar des abstrakten Reichtums. Das Betonen des schrittweisen Transformationsprozesses ist wichtig, weil wir ja auch oft gefragt werden: „ Was wollt ihr denn?“.
Es braucht einen Transformationsprozess. Die spannende Frage ist, wie kann der Transformationsprozess aussehen…
„Ich kann euch das Programm dafür jetzt nicht aus der Tasche ziehen“
daraufhin minutenlanger Tumult und freundschaftlich-böse Zwischenrufe von den Zuhörern:
„Das war doch angekündigt!“
„Wir wollen unser Geld zurück!“
„Okay! also wie gesagt: wird nächstes Jahr nachgeliefert auf dem nächsten Seminar.“
„Keine falschen Versprechungen!“
„Project Godot!“
„No-bert !“
„Ich weiß, das sage ich jedes Jahr.“
5 Jahre später: Ein junger Freund aus dem Umfeld der Kritischen Psychologie und zum ersten Mal auf einem Krisis-Seminar:
„ist euch das nicht irgendwie peinlich, wenn ihr seit 20 Jahren immer dasselbe sagt?“