Fragwürdig ist es, auf Gewalt zu setzen und ebenso fragwürdig ist es, Gewalt auszuschließen.
Potent ist die Gewalt, weil sie zerstören kann. Darin liegt ihre Kraft. In der Schaffung hingegen ist die Gewalt impotent. Das mag zwar eine Binsenweisheit sein, aber sie ist doch extra zu betonen. Gewalt erntet keine Felder, sie baut keine Häuser, sie schreibt keine Gedichte und sie errichtet keine Freundschaften. Aber Gewalt setzt Menschen mächtig unter Druck. Sie vermag alles Mögliche und auch Unmögliche zu verhindern, ja auszuschalten. Von der Gewalt kann zwar niemand leben, aber mit ihr kann man aufräumen, verletzen, töten. Offene Gewalt ist das schärfste Mittel jeder Drangsalierung.
Aufgabe des folgenden Beitrags ist es, gesellschaftliche Verhältnisse als Gewaltverhältnisse zu dechiffrieren. Er ist ein Versuch, Konditionen zu nennen, sich vor vorschnellen Bekenntnissen zu hüten, ohne allerdings auf Stellungnahmen zu verzichten. Die Kategorie ist extensiv ausgelegt, der Gewaltbegriff von der eindimensionalen Fixierung auf den direkten physischen Übergriff gelöst, ohne diese Zuspitzung freilich zu unterschlagen, denn zweifellos ist sie der Kern gewalttätiger Konsistenz. Gewalt ist nicht nur, wenn einem weh getan wird, sondern, wenn einem weh getan werden kann. Gewalt ist nicht das Andere, sondern bloß das Besondere.
In der aktuellen Vorgeschichte spielt Gewalt eine vorrangige Rolle in der Strukturierung menschlicher Sozietät. Das soll man nicht gutzuheißen, aber man sollte es doch begreifen. Die Dominanz ist, schauen wir genau hin, bestechend. Gewalt ist ein, wenn nicht der zentrale Faktor (nicht zu verwechseln mit Grund!) von Herrschaft, egal, ob sie angewendet und angedroht wird oder nur als Möglichkeit sich zusammenbraut, weil in den Eingeweiden der Macht schlummernd. Der politische Wettbewerb ist ja (wie auch die ökonomische Konkurrenz) nichts anderes als domestizierter Krieg. Dem obligaten Kampf der Interessen ist die Gewalt stets beigegeben. Politik entschärft die Kampfarena der Konflikte nur scheinbar, essenziell ändert sie nichts. Durch Politik wird Gewalt nicht sistiert, sondern lediglich substituiert. Gewalt bleibt das erste und das letzte Mittel von Herrschaft.
Gewalt ist subjektive Willensform, weil sie aufgeherrschte Kommunikationsform ist. Leute sind nicht gewalttätig, weil sie instinktiv aggressiv sind, sondern weil sie implizit wie explizit angeleitet werden, sich gewalttätig zu verhalten. „Das gewaltsam hergestellte Bedürfnis nach Gewalt wird als deren natürliche Bedingung hingestellt“, schreibt Friedrich Hacker in seinem lesenswerten Buch Aggression. Die Brutalisierung der modernen Welt (Wien-München-Zürich 1971, S. 17).
Staat und Recht
Der bis dato fortgeschrittenste Ausdruck der Gewalt ist das Gewaltmonopol des Staates. In ihm ist Gewalt nicht verschwunden, vielmehr hat sie sich in höchstem Maße konzentriert. Ganz unverblümt hält Max Weber fest: „Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt. (…) Aber ihre Androhung und, eventuell, Anwendung ist allerdings ihr spezifisches Mittel und überall die ultima ratio, wenn andre Mittel versagen.“ (Wirtschaft und Gesellschaft, Frankfurt am Main 2005, S. 39) „Man kann daher den ‚politischen‘ Charakter eines Verbandes nur durch das – unter Umständen zum Selbstzweck gesteigerte – Mittel definieren, welches nicht ihm allein eigen, aber allerdings spezifisch und für sein Wesen unentbehrlich ist: die Gewaltsamkeit. (…) Ferner aber: dass es ‚legitime‘ Gewaltsamkeit heute nur noch insoweit gibt, als die staatliche Ordnung sie zulässt oder vorschreibt.“ (S. 40)
Gewalt ist (zumindest im demokratischen Rechtsstaat) nicht vorrangiges Mittel, aber letztlich doch das entscheidende. Die Gewalt lässt das Recht allein walten, solange dieses ohne jene auskommt. Ist das nicht mehr der Fall, tritt das Wesen wieder in Erscheinung. Im Recht ist die Gewalt die Ausnahme von der Regel, die aber ihrerseits von der Gewalt erzeugt wurde. Kondition von Recht und Konstitution von Gewalt sind so engstens verwoben. Herrschaft ist dort am vollzogensten, wo Gewalt inaktiv bleibt, aber jederzeit reaktivierbar ist. Wir leben in einem Gewaltverhältnis, egal ob dieses darauf angewiesen ist, Gewalt direkt auszuüben oder nur damit drohen muss, sie im Ernstfall anzuwenden.
Da die Staatsbürger geheißenen Herrschaftsglieder sich in den westlichen Zentren so bereitwillig unterwerfen, wäre es wahrlich nicht sinnvoll, sie mit offener Gewalt zu malträtieren. Im Regelfall ziehen die Leute es vor, sich vor dem Übergriff (Strafe, Sanktion) zu schützen, klein beizugeben, um nicht lädiert zu werden. Der mündige Bürger findet im hörigen seine Grenzen. Und nicht wenige überschreiten diese Grenzen nie, da sie ihnen als natürliche Schranken erscheinen. Es ist nicht selten die Angst vor der Gewalt, die dazu führt, dass diese nicht praktisch werden muss, weil die potenziell Bedrängten sich vorab beugen. Gewalt steht immer im Raum. Unterwerfung ist die vorrangige Möglichkeit, der Gewalt auszuweichen. Man entgeht ihr, ohne ihr wirklich zu entgehen. Im bürgerlichen Staat ist es evident, dass Herrschaft sich über Recht und Gesetz auszuüben versteht. Bestimmend ist also weniger eine personale Beziehung als eine sachliche. Indes findet auch jede sachliche Abhängigkeit ihren Ausdruck in der Hierarchie ihrer Exponenten.
Recht und Gewalt verdeutlichen sowohl Identität als auch Differenz. Identisch sind sie als Wesen der Herrschaft, different sind sie in ihren konkreten Äußerungsformen. Im Recht ist die Gewalt nicht abgelöst, aber doch befriedet. Nirgendwo kann Gewalt so gut versteckt werden wie im Recht. Schon der Begriff alleine rechtfertigt sie. Raffinerierte Gewalt tritt als raffiniertes Recht auf. Des öfteren fällt sie als solche gar nicht mehr auf. Diese Befriedung ist stets eine begrenzte. Recht ist gestockte Gewalt. Dass sich jede Ordnung als endgültig verstehen will, liegt auf der Hand. Dass das nicht anerkannt werden soll, sollte ebenso selbstverständlich sein, zumindest dann, wenn Kritik und Perspektive sich als solche ernst nehmen wollen, mehr sein möchten als ein Appendix bürgerlichen Daseins.
Bisher wurde Gewalt nicht überwunden, sondern bloß geschlichtet. In ihrer Verpuppung des Rechts tut sie freilich so, als wäre sie gar nicht erst vorhanden. Im Recht versucht die Gewalt als Vorläufer desselben sich gegen mögliche Nachfahren abzusichern. Privateigentum ist, wie der Name richtig sagt, Geraubtes. Aber ist der Raub einmal als legal beleumundet, will er keiner neuen Gewalt zugestehen, was ihm Voraussetzung gewesen ist. Recht ist akkumulierte Gewalt. Es pocht daher auch auf seine aktuelle Gesetzlichkeit, die ihm nicht nur gegenwärtig, sondern ehern erscheint. Worauf könnte das Recht auch sonst verweisen? Gültig ist, was gilt, und zwar endgültig. Im Recht ist seine ursprüngliche Gewalt jedenfalls konservativ geworden. Als Erwachsenes will es fortan verteidigen, was es einst, in seiner wilden Jugend, eroberte. Schlussendlich ist es die „Gewalt, welche das Recht alleine garantieren kann“ (Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt (1922), Gesammelte Werke I, Frankfurt am Main 2011, S. 358).
Tabus und Fangfragen
Herrschaft setzt sich aber nicht nur selbst ins Szene, sie bestimmt auch den Charakter jeder radikalen Opposition. Wie das? – Nun, auch diese muss, will sie relevant werden, implizit mit Gewalt drohen, ob sie das nun sieht oder nicht. Die Regelverletzung, d.h. der kleine Ausnahmezustand, ist Voraussetzung ihrer Bedeutsamkeit. So zwingt das System die Systemopposition zu etwas, was diese laut jener gar nicht haben darf: Gewalt. Doch die Lage ist noch komplexer: Womit der Rechtsstaat sich selbst legitimiert, damit delegitimiert er wiederum fundamentale Kritik. Was Verbrechen ist und was Strafe zu sein hat, darüber befindet heute der Staat, der die Gewalt hat, die die anderen nicht haben dürfen. „Gewalt als Delikt verboten, wird als Sanktion geboten, umbenannt und gerechtfertigt“, heißt es in der 6. These zur Gewalt von Friedrich Hacker (Aggression, S. 15).
Unsere Debatten über Gewalt sind religiös aufgeladen. Sie geben Prämissen vor, die einfach hingenommen werden müssen. Erstens ist das ein verbindliches Bekenntnis zum Gewaltmonopol des Staates, was meint, nur die von ihm ausgeübte oder zugelassene Gewalt gilt als erlaubt, ja erwünscht. Hier haben wir Gläubige zu sein, die gerade aufgrund ihrer Zivilität gehorchen. Das nennt sich leider nicht, obwohl es richtig wäre: ziviler Gehorsam.
Ziviler Gehorsam meint zweitens eine ständige Verpflichtung und Festlegung praktischer Kritik auf Gewaltlosigkeit. Bevor jene aktiv wird, ist Selbstfesselung angesagt. Aus Befreiung wird Behinderung. Die, die die Gewalt haben, lehnen die Gewalt jener, die diese nicht haben, ab. Und die letztgenannten tun das Gleiche. Es gibt nicht wenige, die das geradezu frenetisch tun. Das abgefeimte Spiel läuft so, dass die Spielregeln stets den Ausgang bestimmen: Gewalthaber verlangen von Gewaltnichthabern Gewaltverzicht. Deren Bejahung des Gewaltmonopols ist aber schlicht eine Kapitulationserklärung. Schon jede kleine Haus- und Aubesetzung, ja jede Straßenblockade straft diese Anforderung als Lüge. Sobald eine Auseinandersetzung sich auf dem Leim fetischistischer Werte bewegt, haftet sie fest am bürgerlichen Grund. Kapital und Staat werden somit, obwohl kritisiert, legitimiert.
Die herrschenden Fragen sind die Fragen des Herrschenden. Wir stellen andere. Solange wir in gewalttätigen Kontexten leben, ist Gewalt eine optionale Größe. Allseits. Der Rechtsstaat ist zweifellos ein Kriterium des Handelns, aber er ist nicht dessen Leitplanke. Gerade die Frage nach der Gewalt sollte eins nicht als Fangfrage durchgehen lassen, wo einem nur übrig bleibt, sich zum Gewaltmonopol zu bekennen oder der Gewalttätigkeit bezichtigt zu werden, weil man eben nicht Willens ist, apriori abzuschwören und sich zu distanzieren. Das herrschende Nein zur Gewalt ist zuvorderst ein Nein zu jeder Gegengewalt. Die Ursache will eine ihrer Wirkungen verbieten. Das Verhältnis zur eigenen Gewalt wird nicht thematisiert. Man hat sie, und damit hat es sich. Man will sie behalten und außerdem ist sie ein zivilisatorischer Fortschritt, so die verordnete Übereinkunft demokratischer Staatsbürgerschaftskunde. Ächtung der Gewalt und Achtung des Gewaltmonopols gehen jedoch nicht zusammen. Wer für das Gewaltmonopol ist, ist für Gewalt und nicht für Gewaltfreiheit.
Dilemma der Gewaltfreiheit
Emanzipation steht also vor der schier unlösbaren Herausforderung, sich von der Gewalt zu lösen, ohne sie wegzaubern zu können. Diese Aufgabe ist viel eminenter als die Zerstörung der herrschenden Gewalt. Nicht bloß die staatliche Gewalt ist zu überwinden, der Bannkreis herrschaftlicher Gewalt überhaupt ist zu durchbrechen. Denn sollte Gewalt stets zu Gewalt führen, dann wird immer Gewalt sein. Das allerdings darf nicht sein und das kann auch gar nicht mehr sein, soll überhaupt eine Zukunft der Menschheit jenseits militärischer, ökologischer und sozialer Katastrophen möglich werden.
Ein bekannter Satz von Marx lautet: „Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie ist selbst eine ökonomische Potenz.“ (MEW 23, S. 779) Diese Aussage ist richtig, aber auch falsch. Wahr ist sie, weil sie Dynamik und Gesetzlichkeit der Vorgeschichte gut analysiert; dem war und ist zweifelsfrei so. Unwahr wird sie, wenn sie dies für alle Ewigkeit weiterschreibt. Denn dann wird es keine Perspektive, die diesen Namen verdient, geben, sondern abermals eine Reproduktion von Herrschaft unter veränderten Bedingungen. Wer heute noch an die Macht will, kann es nur falsch machen. Freilich ist es nicht ganz auszuschließen, dass wir auch an einen Punkt geraten, wo wir uns auf die Seite einer weniger schlechten Herrschaftsvariante zu schlagen haben. Aber dies ist keineswegs anzustreben. Wir können uns, nehmen wir Emanzipation ernst, das kleinste Übel eigentlich gar nicht mehr leisten. Auch das kleinste Übel multipliziert das Üble immerfort. Die Altlasten werden größer und größer.
Der Zweck heiligt die Mittel, die den Zweck nicht schädigen. Doch trifft das nicht gerade und insbesondere auf die Gewalt zu? Nimmt an ihr nicht jede Absicht Schaden, sei er auch aufgewogen durch einen sonst noch größeren? Fragwürdig ist es, auf Gewalt zu setzen und ebenso fragwürdig ist es, Gewalt auszuschließen. Die Frage der Gewalt ist also offen. Man mag sich dieser Wahrheiten nicht erfreuen, aber man sollte sich ihnen nicht verschließen. Transformation kann sich die Instrumente nicht einfach aussuchen, vor allem weil der Griff zu den Waffen zum ehernen Arsenal der Herrschaft zählt. Gegen Gewalt zu sein, sie aber nicht konsequent verneinen zu können, ist eine Tragik jeder Emanzipation. Sie sollte verzichten und vermag doch nicht. Das ist ein Dilemma. Unfreiwillig landen wir im Reich der Aporien.
Nimmt Emanzipation aber die Unumgänglichkeit von Gewalt zur Kenntnis, hat sie sich tendenziell preisgegeben, hat selbst das Gesicht der Herrschaft, die Charaktermaske des politischen Kämpfers, aufgesetzt. Auch Walter Benjamin hat dieses Problem klar gesehen: „Da dennoch jede Vorstellung einer irgendwie denkbaren Lösung menschlicher Aufgaben, ganz zu geschweigen einer Erlösung aus dem Bannkreis aller bisherigen weltgeschichtlichen Daseinslagen, unter völliger und prinzipieller Ausschaltung jedweder Gewalt unvollziehbar bleibt, so nötigt sich die Frage nach andern Arten der Gewalt auf, als alle Rechtstheorie ins Auge fasst.“ (S. 355 f.) Benjamin spricht von einer „rechtsvernichtenden“ (S. 358) Gewalt, von ihrem „unblutigen und entsühnenden Charakter“ (S. 359). Ob diese andersartige Gewalt als „göttliche Gewalt“ richtig charakterisiert wird, mag zweifelhaft sein, aber Benjamin ist hier auf der richtigen Spur gewesen, auch wenn die Terminologie manchmal etwas auratisch wirkt.
Vorerst geht es einmal darum, die Widersprüche als solche zu erkennen und diese Spannung zu thematisieren. Wo man hin will, ist schon klar, doch was das bezüglich der Mittel heißt, keineswegs. Hilfreich könnte die Differenzierung in Gewaltfreiheit und Gewaltlosigkeit sein, ähnlich wie man ja auch Gedankenfreiheit und Gedankenlosigkeit unterscheidet. Insofern macht das Prinzip der Gewaltfreiheit durchaus Sinn, eben weil sie kein abstraktes Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit bedeutet. Zweifelsohne geht es darum, Gewalt weitgehend zu minimieren, um sie einstens tatsächlich zu ächten. An diesem Punkt stehen wir aber noch nicht.
Was wir vielmehr gegenwärtig erleben, ist, dass an vielen Ecken und Enden das Gewaltmonopol porös und prekär wird, dass dessen unkontrollierte Abwicklung Destruktion maximiert. Recht und Vertrag werden durch Lager, Front und Terror gesprengt. Ausnahmezustände häufen sich und stellen immer weniger ein bloßes Interregnum dar. Vor allem der Nahe Osten scheint sich in unüberschaubaren Fehden aufzulösen, sogar die Fronten verschwimmen zusehends. Failed States wie Libyen, Syrien oder der Irak stehen für diese Entwicklung, vielleicht auch schon die Ukraine. Das Gewaltmonopol fragmentiert sich in solchen Räumen in diverse Gewaltpole. Ähnliches hat sich übrigens auch im Jelzinschen Russland abgezeichnet, hätte Putin nicht seine autoritäre Version eines starken Staats im Bündnis mit einigen Oligarchen durchgesetzt. Den Zerfall des Russischen Reiches als großjugoslawisches Szenario will man sich besser gar nicht vorstellen. Fluktuierende Gewaltpole demonstrieren jedenfalls einen Bürger- oder Bandenkrieg in Permanenz. Anstatt von einer Befreiung künden sie von einer dunklen Periode der Agonie.
Option und Warmherzigkeit
Noch ist sie. Ob wir wollen oder nicht, wird Gewalt eine Option der Auseinandersetzung bleiben. Es wäre also ein Fehler, sie aus den Überlegungen auszuschließen. Diese Sichtweise hat übrigens nichts mit einem Recht auf Notwehr zu tun. Das Bekenntnis etwa zum zivilen Ungehorsam setzt voraus, dass der zivile Gehorsam Normalität zu sein hat und nur im Ausnahmefall darauf verzichtet werden darf. Gewalt als Notwehr ist freilich besonders armselig, sie entschlägt sich jeder Strategie. Regelverletzungen sind permanent und offensiv zu platzieren, ideell wie materiell, bloß sie setzen einen Prozess in Gang, sich überhaupt anderes vorstellen zu können, eben indem man anstellt, was nicht obligat ist, also nicht reproduziert, was sowieso läuft. Und seien wir sicher, dass der bürgerliche Mainstream dies diffamiert. Alle seine Abteilungen und Parteigänger in Ökonomie und Politik, Wissenschaft und Kultur werden unermüdlich von Gewalt und Chaoten schwadronieren.
Gehuldigt wird hingegen der eigenen Gewalt. Dass diese nach wie vor das Maß vieler Dinge ist, erkennen wir am Deutlichsten an den gängigen Fabrikaten der Kulturindustrie. Vom Fernsehprogramm bis zu den Internetspielen wird Gewalt geradezu seriell verherrlicht, sie erscheint als der Problemlöser par excellence. Gewalt ist dort der Dreh- und Angelpunkt ideologischer Zirkulation. Die medialen Geschütze sind da lediglich ihre lautesten Sirenen. Formatiert wie wir als Objekte werden und formiert wie wir als Subjekte sind, werden wir täglich als Menschen deformiert.
Was wir auch veranstalten, wir veranstalten es im Gehäuse der Hörigkeit. Eine Widersetzung, die ihre Setzung nicht selbst zum Gegenstand der Reflexion macht, hat schon verloren. Emanzipation ist nicht denkbar als Sieg der Anderen über die Einen, sondern als Überwindung gesellschaftlicher Zwänge, die (wenn auch mit unterschiedlichen Folgen und in unterschiedlichem Ausmaß) alle treffen. Sollte Gewalt notwendig sein – und das ist zweifelsfrei zu fürchten –, darf ihr nur der Charakter eines prähistorischen Relikts zugestanden werden und nicht der einer heroischen Kraft. Der Heldenkult ist sowieso zu entsorgen.
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Ein selten zitierter Satz von Walter Benjamin lautet: „Gewaltlose Einigung findet sich überall, wo die Kultur des Herzens den Menschen reine Mittel der Übereinkunft in die Hände gelegt hat.“ (S. 352) Unser Autor benennt „Herzenshöflichkeit, Neigung, Friedensliebe, Vertrauen“ als Momente dieser kommunikativen Übereinkünfte, die jenseits von Vertrag, Recht oder Gewalt angesiedelt sind. Daran gilt es anzuknüpfen, an unmittelbaren Menschlichkeiten diesseits von Verrechtlichung und Politisierung. Das geht auch jetzt schon. Mit der „freien Assoziation“, wie Marx sie nannte, kann jederzeit begonnen werden, nicht erst irgendwann, wenngleich das, was heute schon möglich ist, viel weniger ist als das, was wirklich möglich wäre.