Die Automatisierung der Arbeitswelt zerstört millionenfach Jobs. Was einem Horrorszenario gleicht, birgt auch eine Chance: Denn der Kapitalismus sägt den Ast ab, auf dem er sitzt.
Von Patrick Späth
Berlin, Ku’damm, McDonald’s. Die Kunden geben ihre Bestellung am Touchscreen auf, bezahlen am Automaten und holen sich am Verkaufstresen ihr Essen ab. McDonald’s streicht dadurch weltweit Hunderte der ohnehin sittenwidrig bezahlten Jobs. DHL beliefert die Nordseeinsel Juist seit September 2014 mit Drohnen. Und der weltweit größte Versandhändler Amazon tüftelt derzeit schon an seinem Bestellservice Prime-Air: Binnen 30 Minuten soll der Kunde die Ware erhalten, geliefert wird sie von einer tischgroßen, achtmotorigen Flugdrohne namens Octocopter, die Päckchen bis zu 2,5 Kilo in einem Radius von 16 Kilometern transportieren kann.
Wer eine Reise bucht, macht das im Internet – man vergleicht Flugzeiten, Kosten, Hotelbewertungen oder will Leute beim Couch-Surfing kennenlernen. Und was machen die Reisekaufleute? Die suchen verzweifelt einen Job, während die Arbeit erstens vom Konsumenten selbst erledigt wird und zweitens von zig Algorithmen, die uns die besten Reisedaten berechnen.
Computer und Roboter ersetzen am laufenden Band Jobs. Wir leben in einer Ära des Kapitalismus, in der die Produktivität der Arbeit dermaßen hoch ist, dass immer weniger Arbeitskräfte gebraucht werden. Das gleiche Spiel hatten wir bereits in der Landwirtschaft: In den jetzigen Industrienationen waren einst 90 Prozent der Bevölkerung als Bauern tätig, heute sind es nur noch zwei Prozent. Im Jahr 1900 erzeugte ein Bauer mit seiner Arbeitskraft Nahrung für vier Personen, 1950 konnte er schon zehn Menschen ernähren, im Jahr 2000 waren es aufgrund der Technisierung mehr als 133 Menschen. Adieu, Handarbeit. Willkommen, Maschine. Der Journalist und Arbeitskritiker Franz Schandl hat vollkommen recht: »Je mehr die einzelnen Subjekte arbeiten, desto mehr Arbeit schaffen sie nicht neu, sondern desto mehr schaffen sie ab. Je mehr sie ihre Produktivität erhöhen, desto mehr setzen sie andere außer Wert. Die steigenden Hektarerträge schufen nicht reiche Bauern, sondern führten in Deutschland und anderen Industriestaaten zur Eliminierung eines ganzen Standes.« Laut Statistischem Bundesamt erhöhte sich die Produktivität je Arbeitsstunde allein zwischen 1991 und 2011 um 34,8 Prozent. Bei der Präsentation des Golf VI erklärte VW-Chef Martin Winterkorn 2008, dass die Produktivität im Vergleich zum Vorgängermodell um mehr als 15 Prozent gestiegen sei – er hätte auch sagen können, dass 15 Prozent der Lohnarbeiter gefeuert wurden.
Die aktuelle Lage in Südeuropa – mit einer Jugendarbeitslosigkeit von teilweise über 50 Prozent – ist nur ein Vorgeschmack auf das große Jobfressen, das uns noch bevorsteht. Kündigungen überall. Früher galt ein BWL-Studium als sichere Bank, heute ist es eine sichere Bankrotterklärung: Der Bankensektor ist bereits zu über 50 Prozent automatisiert und digitalisiert. Selbst Rechtsanwälte werden jetzt gefeuert: In den USA übernehmen sogenannte E-Discovery-Programme (eine komplexe und lernfähige Software) immer mehr Recherchearbeiten, wo vormals Rechtsanwälte in Aktenbergen und Gerichtsurteilen wühlten. Die Programme erkennen nicht nur einfach Suchwörter, sondern auch komplexe Verhaltens- und Argumentationsmuster. 1978 gab es in den USA einen spektakulären Prozess, in den fünf TV-Sender und das Justizministerium verwickelt waren. Die Anwälte mussten damals über sechs Millionen Dokumente sichten, was Monate dauerte und Arbeitszeit in Wert von 2,2 Millionen US-Dollar kostete. 2011 analysierte die kalifornische Firma Blackstone Discovery 1,5 Millionen Dokumente – für nur 100.000 US-Dollar und in kürzerer Zeit mit geringerer Fehlerquote.
Eine Studie der Universität Oxford kommt zu dem Schluss, dass bis 2030 rund 47 Prozent aller Arbeitsplätze in den USA der Automatisierung zum Opfer fallen könnten. Während etwa Sozialarbeiter oder Handwerker weniger gefährdet sind, ist das Risiko ersetzt zu werden, für Beschäftige in den Bereichen Finanzen, Verwaltung, Logistik, Spedition und vor allem Produktion enorm hoch. Gut möglich, dass die Lokführer bald nicht mehr für Lohnerhöhungen streiken, sondern für den Erhalt ihrer dann automatisierten Arbeitsplätze. In Nürnberg gibt es seit 2009 fahrerlose U-Bahnen, die vollautomatisch durch die Unterwelt rauschen – auch in Helsinki, Paris, Barcelona, Budapest und São Paulo sind bereits seit Jahren U-Bahnen ohne Fahrer unterwegs. Das spart nicht nur Lohnkosten, sondern erhöht auch die Kapazität der U-Bahn-Linien um bis zu 50 Prozent, weil die exakt positionierten Züge in einem engen Zeitkorridor von nur 85 Sekunden hintereinander fahren können.
Die Entwicklung jedenfalls ist rasant: Alle anderthalb Jahre verdoppelt sich nach dem Mooreschen Gesetz die Rechenleistung von Computern. Alle drei Jahre verdoppelt sich die Menge der weltweit digital gespeicherten Daten. Und die gegenwärtigen Roboter sind bei weitem nicht mehr so tapsig und schwerfällig wie frühere Generationen.
Ein Viertel aller deutschen Erwerbstätigen verdingt sich mittlerweile im Niedriglohnbereich, oftmals gut ausgebildete Menschen. Mehr als ein Drittel aller ausgeschriebenen Stellen werden als Leiharbeit angeboten. Gleichzeitig verbreiten Lobbyverbände und unkritisch abschreibende Medien die Lüge vom Fachkräftemangel. Tatsache ist: Die Bundesagentur für Arbeit spricht von einem Fachkräftemangel, wenn auf eine Stelle drei Bewerber kommen; beim Verein Deutscher Ingenieure beträgt die Quote sogar eins zu fünf. Die Wirtschaft will sich nur die Rosinen rauspicken, der »Rest« bleibt arbeitslos.
Schon jetzt ist mehr als eine Milliarde Menschen weltweit unterbeschäftigt oder ganz erwerbslos, Tendenz steigend. Über 40 Prozent der Menschheit schuften für weniger als einen US-Dollar Lohn am Tag. Durch die dritte industrielle Revolution, die digitale Revolution, wird schon bald die billigste menschliche Arbeitskraft teurer sein als eine Maschine. Das würde die Menschen im Globalen Süden von ihrem elenden Sklavendasein ins nächste Elend stürzen: das der Arbeitslosigkeit. Apple baut derzeit eine neue Generation von Robotern, die bald die asiatischen iSlaves ersetzen sollen, die in 16-Stunden-Schichten unsere Smartphones in giftgeschwängerten Fabrikhallen bauen.
Die ganzen Finanzmarktblasen sind nur ein Symptom der Dauerkrise; eine der tieferen Ursachen liegt woanders: Der Kapitalismus sägt selbst den Ast ab, auf dem er sitzt, indem er seinen eigenen Markt zerstört. Durch die Automatisierung und Produktivitätssteigerung fallen Millionen Arbeitsplätze weg, und damit potentielle Konsumenten. Deshalb ist es auch zwecklos, die sogenannte soziale Marktwirtschaft wiederbeleben zu wollen. Der vermeintlichen Finanzkrise liegen knallharte realwirtschaftliche Probleme zugrunde – der Kapitalismus selbst ist die Krise. Die Gruppe Krisis um den Philosophen Robert Kurz bemerkte dazu in ihrem »Manifest gegen Arbeit« (1999): »Erstmals übersteigt das Tempo der Prozess-Innovation das Tempo der Produkt-Innovation. Erstmals wird mehr Arbeit wegrationalisiert als durch Ausdehnung der Märkte reabsorbiert werden kann. In logischer Fortsetzung der Rationalisierung ersetzt elektronische Robotik menschliche Energie oder die neuen Kommunikationstechnologien machen Arbeit überflüssig. Ganze Sektoren und Ebenen der Konstruktion, der Produktion, des Marketings, der Lagerhaltung, des Vertriebs und selbst des Managements brechen weg. Erstmals setzt der Arbeitsgötze sich unfreiwillig selber auf dauerhafte Hungerration. Damit führt er seinen eigenen Tod herbei. […] Der Verkauf der Ware Arbeitskraft wird im 21. Jahrhundert genauso aussichtsreich sein wie im 20. Jahrhundert der Verkauf von Postkutschen.«
Arbeit ist das A und O des Kapitalismus. Kommt Sand ins Getriebe, stockt der Motor der Profitmaschinerie: »Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch dadurch«, schreibt Marx in »Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie« hellsichtig, »dass es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren strebt, während es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt.« Die Kapitalakkumulation gerät zwangsläufig ins Stocken, wenn es keine Arbeiter – und damit Konsumenten – mehr gibt, die das Kapital füttern. »Es liegt also«, so Marx weiter, »in der Anwendung der Maschinerie zur Produktion von Mehrwert ein immanenter Widerspruch, indem sie […] die Arbeiterzahl verkleinert.«
Trotz dieser Entwicklung palavern Wirtschaft und Politik unermüdlich von Wachstum, Arbeitsplätzen und Arbeitsmoral. Kein Wahlplakat, auf dem nicht mit mehr Jobs geworben wird – obwohl die Jobsuche einem Stuhltanz gleicht. Politiker und Unternehmer faseln ständig davon, dass wir mehr »Wachstum und Wettbewerb« bräuchten und dass wir den »Gürtel enger schnallen« müssten, weil nur so »sichere Arbeitsplätze« möglich seien. Alles andere sei »alternativlos«. All diese Dinge werden Konsens – sogar bei den Lohnsklaven selbst. Das gleicht dem Stockholm-Syndrom, bei dem die Opfer von Geiselnahmen nach und nach ein positives Verhältnis zu ihren Entführern aufbauen.
Auch Gewerkschafter, Marxisten und Antikapitalisten gehen diesem Konsens oft genug auf dem Leim, ohne zu merken, dass sie damit blindlings der kapitalistischen Logik folgen. (Selbst in der Verfassung der Sowjetunion von 1936 steht unter Artikel 12: »Die Arbeit ist in der UdSSR Pflicht und eine Sache der Ehre eines jeden arbeitsfähigen Bürgers nach dem Grundsatz: ›Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.‹« – übrigens ein biblisches Zitat des Apostel Paulus: 2 Thess 3, 10). Es ist das Paradox der Gegenwart: Die Arbeitsreligion hat genau zu dem Zeitpunkt den Status einer Staatsreligion erlangt, als die Arbeit beginnt abzusterben. Die linken Gegenstimmen sollten nicht blindlings mehr Arbeitsplätze fordern und dem Arbeitsfetisch anhängen, denn damit handeln sie nur »wie ein Tischler, den man seiner Werkstatt enteignet hätte und der sich in letzter Verzweiflung daran machen würde, sich selbst abzuhobeln«, so das Unsichtbare Komitee in seinem Essay »Der kommende Aufstand«.
Okay, und was tun? Kapitalismuskritik ist seit 2008 fast salonfähig geworden, sie sollte aber dringend die Arbeitskritik einschließen. Wir müssen uns klarmachen, dass Arbeitslosigkeit kein individuelles Versagen ist, sondern ein Fehler im System. Wenn eine gute Theorie die beste Praxis ist, dann lasst uns zuerst den Arbeitsfetisch auf der Müllhalde der bürgerlichen Ideengeschichte entsorgen. Das ist schwierig genug. »Wir können uns eher das Ende der Welt vorstellen als das Ende des Kapitalismus«, beklagte der US-amerikanische Marxist Fredric Jameson.
Auf der einen Seite stehen mögliche Schönheitsreparaturen in den Ruinen des Kapitalismus: Eine 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich wäre hier nur der Anfang. Außerdem könnten wir Maschinen und Automaten besteuern, die bis dato im großen Stil Schwarzarbeit betreiben: Erst zerstören Zigaretten-, Leergut- und Fahrscheinautomaten sowie unzählige Fertigungsroboter und Computer Millionen von Arbeitsplätzen, und dann »arbeiten« sie, ohne dafür Steuern zu zahlen. Für jeden Euro, den eine Maschine erwirtschaftet, sollten zehn oder mehr Cent an die Allgemeinheit gehen. Auf der anderen Seite steht die Kernsanierung der kapitalistischen Ruinen. Dazu gehört die ebenso bekannte wie notwendige Forderung, dass die Produktionsmittel (also Fabriken, Grundstücke, Infrastruktur, Maschinen, Roboter, Server …) in die Hände der Allgemeinheit übergehen müssen. Denn wer immer im Besitz dieser Mittel ist, wird zwangsläufig andere Menschen zu Lohnsklaven machen, sie vernutzen und sie dann auf die Straße setzen. Statt Maschinenstürmerei oder Rufen nach »mehr Arbeit für alle« tut es Not, die Eigentumsfrage zu stellen. Die Automatisierung ist nur dann ein Horrorszenario, wenn man innerhalb der kapitalistischen Logik denkt. Sie könnte ein Paradies sein, wenn nur die paradiesischen Früchte gerecht verteilt wären, sprich, wenn die Maschinen allen gehörten. Dafür aber muss erst der Kapitalismus verschwinden. »Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion«, schrieb Marx, »ist das Kapital selbst.« Hoffen wir, dass der Ast bald abbricht, auf dem der Kapitalismus sitzt.
Aus: Junge Welt Ausgabe vom 21.02.2015, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage
Patrick Spät, 32, lebt als freier Journalist und Autor in Berlin. Zum Thema Arbeit erschien von ihm das Buch »Und, was machst du so? Fröhliche Streitschrift gegen den Arbeitsfetisch«, Zürich, Rotpunktverlag 2014, 9,90 Euro