Wer ist schuld am Krisenausbruch?

Krise des Kapitalismus – Teil 2

von Tomasz Konicz

Teil 1
Teil 3
Teil 4
Teil 5

Teil 1: Ist es schon zu spät?

Je weiter sich die Krise zuspitzt, desto stärker dominieren wechselseitige Schuldzuweisungen den öffentlichen Krisendiskurs in nahezu allen westlichen Ländern. Inzwischen scheint es geradewegs so, als ob wirklich jede Nation und jede relevante gesellschaftliche Gruppe durch Fehlverhalten irgendwie zu dem Desaster beigetragen habe, das sich derzeit in Europa vor unseren Augen entfaltet.

In nahezu ganz Europa wird beispielsweise die Bundesregierung für die Eskalation der Schuldenkrise verantwortlich gemacht, die mit ihrem Sparkurs den europäischen Währungsraum in den Kollaps treibe. Einen bisherigen Höhepunkt dieser anschwellenden Kritik am deutschen Spardiktat in der Eurozone stellte die jüngste Titelstory der linksliberalen britischen Wochenzeitung New Statesman dar, die Merkel zum „gefährlichsten Führer der Welt“ erklärte und als einen im Sparfetisch verfangenen Terminator darstellte, der wegen der ansteigenden Selbstmordraten in Südeuropa bereits „Blut an den Händen“ kleben habe.

Auch außerhalb von Europa nimmt die Kritik an Deutschland inzwischen einen konsensartigen Charakter an, wie deutsche Medien während des G20-Gipfels bemerken mussten:

„Von US-Präsident Barack Obama bis zu den Regierungschefs von Indien, Brasilien, Argentinien und Russland gab es nur vernichtende Urteile über Merkels Politik, die die Weltwirtschaft in die Rezession führe.“ Spiegel

In Deutschland glaubt man ebenfalls, die Schuldfrage hinreichend geklärt zu haben. Von der ungemein erfolgreichen und auf Ressentiment-Produktion spezialisierten Ich-AG Thilo Sarrazin bis zu emeritierten „Ökonomieprofessoren“ wie einem Ottmar Issing werden die faulen Südländer für die Krise verantwortlich gemacht. Ottmar Issing hat diese schiefe Krisendeutung – die Deutschlands gigantische Leistungsbilanzüberschüsse gegenüber der Eurozone praktischerweise ausblendet – in einem Beitrag für die FAZ auf den Punkt gebracht:

„Die Erkenntnis, dass die Probleme fast ausnahmslos in jedem Land auf eigene Fehler zurückzuführen sind, lässt sich immer weniger unterdrücken. Überzogene Lohnsteigerungen über viele Jahre, nicht zuletzt im öffentlichen Sektor, in nicht wenigen Fällen eine unsolide Finanzpolitik, in anderen eine hemmungslose Kreditvergabe der Banken mussten in einer Krise enden“ Ottmar Issing.

Und selbstverständlich werden weiterhin auch die fiesen Banker und Spekulanten, die in ihrer maßlosen Gier zur Ausbildung gigantischer Spekulationsblasen beigetragen hätten, für das gegenwärtige Chaos verantwortlich gemacht. So argumentiert auch der New Statesman in der eingangs erwähnten Kritik an Merkel, indem er „den Top-Bankern der Welt“ die Schuld am Ausbruch der Krise gibt, die aber durch Merkels „Defizit-Fetischismus“ verschlimmert werde. Rechtsextreme und rechtspopulistische Kräfte beschuldigen hingegen wahlweise Ausländer, Arbeitslose, Flüchtlinge, Sozialhilfeempfänger, Muslime, Juden oder Roma, in der einen oder anderen Form zur Krisendynamik beizutragen. Thilo Sarrazin bereicherte diese rechtsextremen Wahngebilde jüngst um eine weitere Facette, als er den angeblichen südeuropäischen Schlendrian mit dem Wetter in Verbindung brachte. Das Wetter präge nämlich den „Volkscharakter“, so der verkannte SPD-Satiriker:

„In meinem Buch nenne ich das den Nebel-Faktor. Je nebliger und kälter die Winter in einem Land sind, desto solider sind die Finanzen. Wenn man schon durch die Natur gezwungen ist, für harte Zeiten Vorsorge zu treffen, prägt das offenbar den Charakter eines Volkes.“ Thilo Sarrazin

Die Winter in Singapur, das in 2011 einen Haushaltsüberschuss von nahezu drei Prozent erzielte, müssen also mörderisch sein.

Personifizierung der Krisenursachen

All diese mehr oder minder ernst zu nehmenden Krisendeutungen und ihre korrespondierenden Schuldzuweisungen basieren auf einer gemeinsamen Grundannahme: Die Krise sei durch das Fehlveralten einzelner Individuen, Gruppen oder Gesellschaftsschichten verursacht worden, die so die reibungslose Funktionsweise des Kapitalismus gestört hätten. Irgendwer muss gegen die hehren Gesetze der Marktwirtschaft verstoßen und hierdurch das gegenwärtige Chaos verursacht haben, so in etwa lautet die Prämisse aller obigen Kriseninterpretationen. Je nach ideologischer Präferenz ergeben sich dann die entsprechenden Schuldzuweisungen: Die Banker seien zu gierig gewesen, die Südeuropäer hätten über ihre Verhältnisse gelebt, Deutschland sei dem „Sparfetisch“ verfallen und führe die Welt in die Depression, die Ausländer würden uns die Arbeitsplätze wegnehmen – oder die Schuldenkrise wird auf einen witterungsbedingten „Volkscharakter“ zurückgeführt.

Bei all diesen Deutungen der gegenwärtigen Systemkrise des Kapitalismus wird durchweg einer Personengruppe die Schuld für die Krise gegeben, die aus den charakterlichen, kulturellen oder rassischen Defiziten des beschuldigten Personenkreises resultieren soll. Es findet somit eine Personifizierung der Krisenursachen statt, bei denen die aktuellen Verwerfungen auf die Eigenschaften der betreffenden Personengruppen oder Nationen zurückgeführt werden. Das gesellschaftliche System, in dem diese Sündenböcke wirken, bleibt aber bei dieser Personifizierung außer Betrachtung. Der Kapitalismus ist im Alltagsbewusstsein längst zu einem Naturzustand des Menschen sedimentiert, über den genauso wenig reflektiert wird wie etwa über die Schwerkraft.

Tatsächlich muss die oben dargelegte Grundannahme dieser Sündenbocktheorien in ihr aussagenlogisches Gegenteil umgekehrt werden, um den wahren Krisenursachen auf die Spur zu kommen. Die Krise ist deswegen ausgebrochen, weil alle Beteiligten ihre ökonomischen Funktionen in der Marktwirtschaft mit Bravour erfüllen. Niemand ist schuld am Krisenausbruch. Der Kapitalismus befindet sich genau deswegen in einer Systemkrise, weil alle ökonomischen Subjekte genau das möglichst effizient machen, was das System von ihnen verlangt.

Der Arbeitsgesellschaft geht die Arbeit aus

Im Kapitalismus dreht sich bekanntlich alles um eine möglichst effektive Vermehrung – auch Verwertung genannt – des eingesetzten Kapitals. Das Kapital ist wiederum ein soziales Verhältnis, das Menschen einzugehen genötigt sind, und bei dem durch die möglichst effiziente Anwendung von Lohnarbeit in der Warenproduktion aus Geld mehr Geld gemacht wird. Deswegen wird der Kapitalismus auch völlig zutreffend als Arbeitsgesellschaft bezeichnet. Dieses auf der Verwertung menschlicher Arbeitskraft basierende Kapitalverhältnis befindet sich somit in einer fundamentalen Krise, weil die daran beteiligten Akteure diesen gesellschaftlichen Prozess der Kapitalverwertung immer effizienter gestalten.

Um sich dieser anscheinend paradoxen Diagnose zu nähern, ist es hilfreich, der kapitalistischen Gesellschaftsformation den Schleier des Selbstverständlichen und Naturwüchsigen zu nehmen, der sie immer umgibt. Der Kapitalismus ist kein widerspruchsfreies Naturgesetz, er ist keine ewige Voraussetzung menschlicher Existenz, sondern ein historisches Gesellschaftssystem, das sich etwa auf dem Territorium der derzeitigen Bundesrepublik erst zur Mitte des 19. Jahrhunderts voll durchsetzte. Das sind gerade einmal etwas mehr als 150 Jahre, in denen diese äußerst dynamische und zugleich instabile Gesellschaftsunordnung so ziemlich alles und jeden zur Ware degradierte und den Markt, der zuvor eine Randexistenz spielte, zur totalen Instanz menschlicher Vergesellschaftung machte. Die menschliche Geschichte spielte sich somit zum überwiegenden Teil jenseits des Kapitalverhältnisses ab – also jenseits von Lohnarbeit, Markt oder Geld, die zuvor in allen Gesellschaftsformationen nur Randphänomene darstellten.

Alle historischen Gesellschaftssysteme haben selbstverständlich einen Anfang und ein Ende; sie erfahren eine Periode des Aufstiegs, sie befinden sich über einen bestimmten Zeitraum im Zenit ihrer Entwicklungsmöglichkeiten, und sie erleben schließlich ihren Niedergang. Das Entwicklungspotenzial der kapitalistischen Gesellschaftsformation stößt aufgrund der eskalierenden Widersprüche, die dieser Gesellschaftsordnung innewohnen, in unserer Epoche an seine Grenzen. Die aus der Marktkonkurrenz erwachsende Notwendigkeit, zwecks größtmöglicher Kapitalvermehrung Waren immer effizienter zu produzieren, führt dazu, dass die Produktion immer stärker rationalisiert wird. Hierdurch geht die Beschäftigung in etablierten Industriezweigen immer stärker zurück, sodass neu entstehende Wirtschaftssektoren diese freigesetzten Arbeitskräfte aufnehmen müssen, soll nicht die Arbeitslosigkeit gesamtgesellschaftlich immer weiter steigen.

Die kapitalistische Arbeitsgesellschaft befindet sich somit in einem permanenten Selbstwiderspruch, bei dem die möglichst effiziente Anwendung von Lohnarbeit zugleich die Lohnarbeit aus der Warenproduktion verdrängt. Dieser Selbstwiderspruch der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft ist nur im „Prozessieren“ – in permanenter „Flucht nach vorn“ – aufrechtzuerhalten: Neue Produkte und Wirtschaftszweige müssen in diesem als Strukturwandel bezeichneten Prozess neue Beschäftigungsmöglichkeiten für die freigesetzten Arbeitskräfte schaffen. (Siehe hierzu auch: Die Krise kurz erklärt).

Spätestens seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts funktioniert dieser Strukturwandel nicht mehr, da die gesamtgesellschaftliche Durchsetzung des Computers und der elektronischen Datenverarbeitung ungeheure Rationalisierungsschübe entfesselte, die Lohnarbeit innerhalb der Warenherstellung immer weiter überflüssig machte. Der Arbeitsgesellschaft geht somit die Arbeit aus, gerade weil alle Beteiligten unter Anwendung neuster Technologien immer effizienter arbeiten (siehe hierzu auch: Das Ende des „Goldenen Zeitalters“ des Kapitalismus und der Aufstieg des Neoliberalismus).

Expansion des Finanzsektors verzögerte die Krise der Arbeitsgesellschaft

Wir haben es vor allem den „gierigen Bankern“ – und speziell in Europa den verschuldeten Südeuropäern – zu verdanken, dass diese Krise der Arbeitsgesellschaft über Jahrzehnte nicht zum vollen Ausbruch gelangte. Die enorme Expansion des Finanzsektors seit den 80er Jahren bildete eine zeitweilige Fluchtmöglichkeit vor der Krise der Arbeitsgesellschaft, da die damit einhergehenden Verschuldungsorgien und Spekulationsexzesse auch zusätzliche Nachfrage und Arbeitsgelegenheiten erzeugten. Die Finanzmärkte und die Banker haben den Kapitalismus somit überhaupt funktionsfähig erhalten und auf Kredit finanziert – freilich um den Preis immer stärker anwachsender Schuldenberge, die nun über uns zusammenbrechen. Dieser Schuldenturmbau stellt somit eine reife Leistung der Finanzmarktjongleure dar, die ein an seinen inneren Gegensätzen zugrunde gehendes Gesellschaftssystem noch jahrzehntelang durch die Verpfändung einer Zukunft, die es nicht mehr hat, am Leben erhielten.

Aus dieser Krisenkonstellation eines spätkapitalistischen Systems, das aufgrund ungeheurer Produktivitätsschübe ohne Verschuldung nicht mehr funktionsfähig ist, resultiert auch der zutiefst absurde Charakter des gegenwärtigen Krisenverlaufs: Es herrscht immer größeres Elend, gerade weil immer mehr Waren in immer kürzerer Zeit durch immer weniger Arbeitskräfte hergestellt werden können. Das System erstickt an seiner Produktivität. Dieser irrsinnige Widerspruch wird überall dort deutlich, wo Güter und Waren vernichtet werden, für die keine marktvermittelte Nachfrage mehr gegeben ist, obwohl immer mehr Menschen ihre diesbezüglichen Bedürfnisse nicht mehr decken können.

Die im Zuge der Spekulationsexzesse errichteten Eigenheime werden beispielsweise immer öfter einfach abgerissen, obwohl die Zahl der Obdachlosen in den USA oder Spanien krisenbedingt ansteigt. Der nun trotz materiellem Überfluss herrschende Mangel etwa bei Wohnraum ist darauf zurückzuführen, dass im Kapitalismus die Produktion von Waren immer nur ein Mittel zum Selbstzweck der ewig anschwellenden Kapitalvermehrung darstellt. Der materielle Reichtum, die Gebrauchswerte der produzierten Güter haben im Kapitalismus keinen Wert und müssen vernichtet werden, sobald sie nicht mehr dazu taugen, aus Geld mehr Geld zu machen.

Die dargelegten systemischen Widersprüche, die solchen offensichtlichen Absurditäten zugrunde liegen, werden aber auf gesamtgesellschaftlicher Ebene unbewusst von den ökonomischen Subjekten zugespitzt. Die Marktteilnehmer lassen diese Krisendynamik eskalieren, aber sie tun es in einem blinden Prozess, der eine Eigendynamik entfacht und somit in Gestalt der „Märkte“ den Menschen als eine fremde Macht gegenübertritt. Dieser Prozess vollzieht sich „hinter dem Rücken der Produzenten“, wie es Marx formulierte – einfach dadurch, dass alle beteiligten Marktsubjekte bemüht sind, ihre Produkte möglichst effizient und billig herzustellen und möglichst gewinnbringend auf dem Markt zu veräußern. Niemand kontrolliert diese daraus resultierende Krisendynamik im Kapitalismus, sie ist von einer Eigenbewegung der höchstmöglichen Selbstverwertung angetrieben. Gerade weil das beständige Bestreben aller Kapitalisten, ihre Waren möglichst effizient herzustellen, so erfolgreich vorangetrieben wurde, befindet sich der Kapitalismus an einer unüberwindbaren inneren Schranke, deren katastrophales Überschreiten nur durch fortgesetzte Verschuldungsprozesse hinausgezögert werden kann.

Der Kapitalismus ist somit durch die subjektlose Herrschaft des marktvermittelten Prinzips der Kapitalverwertung gekennzeichnet. Einzelne Akteure – selbst die mächtigsten Banker und Kapitalisten – fungieren nur als Charaktermasken ihrer ökonomischen Funktion. Ein Josef Ackermann oder Ferdinand Piëch können nur dann als autonome Subjekte innerhalb ihrer Unternahmen oder Banken wirken, wenn sie ihr Handeln an der Maxime der höchstmöglichen Kapitalverwertung ausrichten. Deswegen kann es – abgesehen von einzelnen Marktnischen – auch keine „guten Kapitalisten“ oder Banker geben, die von Ausbeutung, Arbeitshetze, Massenentlassungen oder Lohndumping Abstand nehmen würden, da sie sonst in der Marktkonkurrenz untergehen würden. Die ökonomische Funktion des „Wirtschaftsführers“ zieht somit auch Menschen mit der entsprechenden charakterlichen Disposition an, die sich dort ausleben können. Alle gutmütigen und rücksichtsvollen Kapitalisten sind schon längst bankrottgegangen.

Aus der Tatsache einer marktvermittelten subjektlosen Herrschaft des Kapitalverhältnisses kann aber nicht eine pauschale Exkulpierung der Funktionsträger dieses Systems abgeleitet werden. Die Betroffenen streben diese Funktionen ja bewusst an. Im Kapitalismus, dessen Betrieb schon immer buchstäblich massenmörderische Konsequenzen nach sich zog, haben somit unzählige Politiker, Banker oder Kapitalisten enorme Schuld auf sich geladen. Doch geschieht dies dadurch, dass sie Systemgesetze exekutieren, und nicht dadurch, dass dagegen verstoßen würde. Wenn etwa Unternehmer Massenentlassungen durchsetzen, dann stoßen sie bewusst andere Menschen ins Elend – doch vollzieht sich dies im Einklang mit der Systemimperativen der Gewinnmaximierung. Ähnliches kann über Banker gesagt werden, die mit immer neuen „Finanzinstrumenten“ auf dem Höhepunkt der Immobilienspekulation ein Vermögen machen. Die oftmals in Sonntagsreden beklagte maßlose Gier von Bankern oder Managern resultiert somit nicht aus irgendwelchen moralischen Defekten dieser Individuen, sie stellt vielmehr ein Abbild des innersten Antriebsprinzips dieses Systems dar. Sich über die überhandnehmende „Gier“ zu echauffieren, ohne diese auf ihre systemischen Ursachen zurückzuführen, ist somit schlicht naiv.

Der unerträgliche Zustand unserer im Chaos versinkenden Welt resultiert also nicht daraus, dass gegen die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus verstoßen wurde, sondern daraus, dass dessen Gesetze unbarmherzig exekutiert werden. Die einzig vernünftige moralische Haltung besteht aber nicht darin, den erhobenen Zeigefinger gegen einzelne Akteure zu erheben, sondern im Beharren auf der Notwendigkeit einer humanen gesellschaftlichen Alternative.


Der nächste Artikel wird der Frage nachgehen, wieso sich ausgerechnet die Eurozone gegenwärtig im Zentrum der Krisendynamik befindet. 

aus: Telepolis 26.6.2012

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