Über die Verhältnisse leben

von Julian Bierwirth

In regelmäßigen Abständen verkünden Politiker*Innen jedweder Coleur, die Gesellschaft habe „über ihre Verhältnisse“ gelebt. Obwohl häufig gehört, macht diese Redewendung doch stutzig. Dass eine Gesellschaft in der Lage ist, „über ihre Verhältnisse“ zu leben, ist keineswegs selbstverständlich. Kein Mensch und keine Gesellschaft ist beispielsweise dazu fähig, in einem gegebenen Zeitraum mehr zu verbrauchen, als vorhanden ist. Es können nicht mehr Brötchen gegessen werden, als es gibt, es können nicht mehr Fahrräder genutzt werden als vorhanden sind und auch Energie lässt sich nur dann verausgaben, wenn sie zuvor erzeugt wurde. (Die einzige denkbare Ausnahme stellt hier vermutlich die heute gängige Variante des Ressourcenverbrauchs dar, die durch intensive Ressourcennutzung eine mögliche spätere Umstellung auf regenerative Energien erschwert.) Der Satz kann nur deshalb auf allgemeine Zustimmung stoßen, weil bei Reichtum und Wohlstand nicht in erster Linie an stoffliche Phänomene, sondern an monetäre Größenordnungen gedacht wird. Letztere zeichnen sich somit allem Anschein nach durch Eigenschaften aus, die nicht mit denen des stofflichen Reichtums identisch sind.

„Über die eigenen Verhältnisse zu leben“ meint, sich verschuldet zu haben. Der Konsum stofflichen Reichtums stellt sich als monetärer Selbstmord heraus. Um an die Dinge zu gelangen, die doch da sind, werden Menschen gezwungen, ihre Zukunft zu verpfänden. In der wird das nicht besser werden: dank verbesserter Technik wird mehr stofflicher Reichtum zur Verfügung stehen, der wegen der üppigen Verschuldung noch weniger finanzierbar sein wird als heute schon. Das Ergebnis? Mehr Verschuldung.

Das klingt – Sie haben es erraten – nach keiner guten Idee. Nennt sich übrigens Kapitalismus, das Ganze. Macht weder Spaß noch funktioniert es ordentlich. Sollten wir mal abschaffen.

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