KOLUMNE Immaterial World
von Stefan Meretz
Die biologische Evolution wird keineswegs nur durch Konkurrenz und Egoismus vorangetrieben. Als ebenso wichtig im Kampf ums Dasein erweist sich die Kooperation der Individuen“ – fasst Biologie-Professor Martin Nowak seine Erkenntnisse zwei Jahrzehnte währender Forschung zusammen (Spektrum der Wissenschaft 11/2012, S. 77). Der „Kampf ums Dasein“ wird „keineswegs nur“ konkurrenzförmig, sondern „ebenso“ kooperativ betrieben – kann man die Verhältnisse in der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft besser illustrieren und gleichzeitig ontologisieren? Unglaublich, dieser „Fortschritt“. Geschenkt.
Wie aber kann man das Verhältnis von Konkurrenz und Kooperation angemessener fassen? Und wie verhält es sich beim heutigen Menschen?
Konkurrenz muss man sich leisten können. Aus der Sicht der gesamten Population verschwendet Konkurrenz Ressourcen. Dennoch gibt es Formen der innerartlichen Konkurrenz, die für die jeweilige Organisation der sozialen Struktur in der Population erforderlich und insofern auch im Sinne des Überlebens der Population funktional sind (etwa Kämpfe um Rangordnungen etc.). War das nun bei der Herausbildung des Homo sapiens genauso?
Bei der Herausbildung des Homo sapiens aus den homininen Vorformen war nicht die zwischenartliche Konkurrenz relevant, sondern das Überleben der Population innerhalb sich verändernder Umweltbedingungen. Soziale Organisationsformen, die auf hierarchischen Rangordnungen, Rudelführungen usw. basieren, sind im Vergleich zu kooperativen Formen nicht geeignet, das Überleben unter ungünstigen Umweltbedingungen zu gewährleisten. Stattdessen bildeten bereits die homininen Arten Frühformen der gegenständlichen und sozialen Herstellung ihrer Lebensbedingungen heraus, die auf der Kooperation der einzelnen Mitglieder des Sozialverbandes basierten. Im Unterschied zur Nutzung bloß vorgefundener Umweltbedingungen bedeutet die Herstellung eigener Lebensbedingungen ein höheres Maß an Absicherung vor sich ändernden Umwelten. Zudem können gegenständliche und dann mit der Sprache auch symbolische Erfahrungen überdauernd kumuliert und an nachfolgende Generationen weitergegeben werden.
Ohne Kooperation ging gar nichts, Konkurrenz innerhalb der Population war existenzgefährdend. Ein beliebtes Thema liefert die Frage, warum der Neandertaler ausgestorben ist, während der Homo sapiens überlebte. Schließlich hätten doch beide Arten über annähernd die gleichen Fähigkeiten verfügt: ausgefeilte Formen der Kooperation, Herstellung gegenständlicher Mittel zur Überlebenssicherung (Werkzeuge, Waffen, Behausungen etc.), und auch mehr oder minder differenzierte Formen der Kommunikation standen beiden Arten zur Verfügung.
Die Antwort ist für den Begriff des „Menschen“ zentral: Das Kooperationsniveau der Neandertaler war auf den jeweiligen lokalen Sozialverband begrenzt, während sich die Kooperation des Homo sapiens auf sehr viele (potenziell alle) Sozialverbände erstreckte. Dies weiß die Forschung heute, weil sie anhand der gefundenen gleichförmigen Artefakte nachweisen konnte, dass der Homo sapiens eine steinzeitliche „Werkzeugindustrie“ etabliert hatte. Diese setzt eine sich über große Räume erstreckende Kooperation voraus. Was die Forschung nicht weiß – da ihr der Begriff fehlt – ist, dass diese alle lokalen Sozialverbände übergreifende Kooperation das wesentliche Merkmal der sich herausbildenden gesellschaftlichen Natur des Homo sapiens war und ist.
In einer Analogie könnte man es so sagen: Der Neandertaler verfolgte ein „proprietäres Modell“, das allein auf die Ressourcen einer lokalen Gruppe angewiesen ist, während der Homo sapiens das „Open-Source-Modell“ der übergreifenden gesamtgesellschaftlichen Kooperation verfolgte und somit auf wesentlich umfangreichere Ressourcen (v.a. Kenntnisse, Erfindungen, Techniken usw.) zurückgreifen konnte. Als das Klima echt mies war (Eiszeit), musste der Neandertaler gehen, während sich der Homo sapiens über die gesamte Erde ausbreitete. Die gesamtgesellschaftliche Kooperation ist also kein Zusatz, sondern konstitutives Merkmal der Natur des Menschen. Natur ist hierbei wörtlich gemeint: Jeder Mensch verfügt über die biotischen Potenzen, sich an der gesellschaftlichen Kooperation zu beteiligen, sich zu vergesellschaften.
Warum konnten sich dennoch „Konkurrenzverhältnisse“ etablieren? Weil sich der Homo sapiens das irgendwann „leisten konnte“, also mehr produzierte, als für das unmittelbare Überleben erforderlich war. Eine nichtproduzierende herrschende Klasse konnte sich etablieren. Basis von klassenförmig oder wie auch immer strukturierten Konkurrenzverhältnissen ist dabei stets die gesamtgesellschaftliche Kooperation. Konkurrenz und Kooperation bilden folglich keinen Gegensatz, sondern ein Verhältnis. Konkurrenz und Kooperation sind jedoch nicht gleichursprünglich, sondern Konkurrenz setzt Kooperation voraus, was umgekehrt nicht gilt.
Häufig wird „Kooperation statt Konkurrenz“ gefordert. Doch Kooperation ist immer, ohne einen „elementaren Kommunismus als Rohstoff des Zusammenlebens“ (Graeber, Schulden, S. 105) geht nichts. Konkurrenz steht Kooperation nicht gegenüber, sondern realisiert sie in einer bestimmten Weise. Konkurrenz ist eine Form der Kooperation, in der sich einige auf Kosten anderer durchsetzen. Ob die „Kosten“ dabei existenziell sind (Nahrungsmangel etc.) oder nur den zweiten Platz im Wettkampf bedeuten, ist dabei zentral. Solange kapitalistische Konkurrenz auch für die zweiten bis x-ten Plätze im Konkurrenzkampf noch genügend Lebensmöglichkeiten bereitstellt, erscheint Konkurrenz nicht als Problem (wobei viele echte Verlierer_innen unsichtbar und sprachlos gemacht werden).
Die neoliberale Universalisierung der Konkurrenz erhöht die wechselseitig aufgebürdeten Kosten derart, dass viele Menschen dies nicht länger ertragen wollen. Sie entdecken etwa die Commons als eine soziale Form, Lebensmöglichkeiten herzustellen, die nicht auf Kosten anderer gehen – zumindest dem Wollen und der Tendenz nach. Kann das Open-Source-Modell der Commons das proprietäre Neandertaler-Modell des Kapitalismus aus-kooperieren?