von Christian Siefkes
Wenn wir über das gute Leben nachdenken, stellen wir uns ein Leben in Fülle vor – wo niemand Not leiden muss, wo es genug für alle gibt und jede/r seine oder ihre Bedürfnisse befriedigen kann. Aber geht das überhaupt? Scheitert die Möglichkeit eines Lebens in Fülle nicht zwangsläufig an der Endlichkeit der Erde? Und wo soll die Fülle herkommen? Kommt nicht vor den Freuden des Konsums die Mühsal des Produzierens, vor dem angenehmen „Reich der Freiheit“ das weniger erfreuliche „Reich der Notwendigkeit“? Um diese zwei Herausforderungen für die Vision eines guten Lebens für alle soll es im Folgenden gehen.
Der ökologische Fußabdruck
Der ökologische Fußabdruck ist die Fläche auf der Erde, die nötig ist, um den Lebensstil einer Gruppe von Menschen dauerhaft zu ermöglichen. Er umfasst die Fläche, die benötigt wird, um die verwendeten Ressourcen anzupflanzen bzw. abzubauen und um den Müll, der während Herstellung, Nutzung und Entsorgung der genutzten Produkte anfällt, aufzunehmen und zu absorbieren. Die Maßeinheit für den ökologischen Fußabdruck ist der „globale Hektar“ – ein Hektar (hundertstel Quadratkilometer) Land von durchschnittlicher Fruchtbarkeit.
Hier ergibt sich ein Problem, denn der ökologische Fußabdruck der Menschheit beträgt derzeit achtzehn Milliarden globale Hektar, die insgesamt verfügbare Biokapazität der Erde umfasst aber nur etwa zwölf Milliarden globale Hektar. Das Missverhältnis ist offensichtlich: So wie wir heute leben, bräuchten wir eigentlich anderthalb Erden. Wir verbrauchen die Ressourcen der Erde schneller, als sie sie erneuern kann, und leben somit auf Kosten unserer Kinder, denen die übernutzten Ressourcen später fehlen werden.
Das „wir“ ist dabei allerdings sehr ungleich verteilt, denn in vielen Ländern ist der durchschnittliche Fußabdruck pro Person sehr gering. In Bangladesch und Afghanistan beträgt er 0,6 globale Hektar pro Person, in Indien und dem Jemen 0,9 Hektar, im Irak und auf den Philippinen 1,3 Hektar. All diese Länder liegen unter dem Durchschnittswert, der nachhaltig möglich wäre, wenn man die zwölf Milliarden Hektar Biokapazität auf die gut sechseinhalb Milliarden heute lebenden Menschen aufteilt: 1,8 Hektar pro Person.
Der tatsächliche weltweite Durchschnitt liegt mit 2,7 Hektar 50 Prozent darüber. Deutschland und Österreich verbrauchen knapp das Doppelte dieses Werts, nämlich 5,1 bzw. 5,3 Hektar pro Person. In den anderen europäischen Ländern sieht es ähnlich aus. An der Spitze des Verbrauchs liegen die USA und einige arabische Länder mit 8,0 oder mehr Hektar (vgl. Wikipedia 2010). Wir in den hochindustrialisierten Ländern leben also nicht nur auf Kosten unserer Kinder, sondern auch auf Kosten der Menschen anderswo in der Welt. Denn es ist völlig klar, dass wir nur deswegen so leben können, weil die Leute anderswo sehr viel weniger Ressourcen verbrauchen.
Zwei Konzepte von Fülle
Wenn man über materielle Fülle für alle nachdenkt, ist klar, dass diese Fülle – unabhängig von der Gesellschaftsform, in der sie produziert wird – im Rahmen der verfügbaren Biokapazität bleiben muss. Die Grenze von derzeit 1,8 Hektar pro Person muss eingehalten werden, sonst geht die Fülle für einige notwendigerweise auf Kosten anderer oder auf Kosten unserer Kinder. Man mag Fülle mit der Möglichkeit „grenzenloser Verschwendung“ assoziieren – wo man sich z.B. fünf Autos in die Garage stellen oder sich nach Belieben Dinge aneignen kann, um sie, wenn einer/einem der Sinn danach steht, nach kurzer Verwendung wieder wegzuschmeißen. Eins ist völlig klar: Fülle als grenzenlose Verschwendung ist in unserer begrenzten Welt nicht möglich – jedenfalls nicht für alle und nicht für lange Zeit.
Aber man kann sich unter „Fülle“ auch etwas anderes vorstellen, nämlich: „genau was ich brauche, wenn ich es brauche“. Mit Dingen, die man schnell wegwirft, kann man nicht mehr Bedürfnisse befriedigen als mit Dingen, die man länger behält, und mit fünf Autos kommt man nicht unbedingt schneller und bequemer zum Ziel als mit einem – oder mit komfortablen öffentlichen Verkehrsmitteln, sofern sie existieren. Dieses zweite Konzept von Fülle orientiert sich nicht an der Anhäufung von Dingen, sondern an der Befriedigung von Bedürfnissen.
Kann man auf dieser endlichen Erde so produzieren, dass für alle genug da ist, dass alle nutzen können, was sie brauchen, wenn sie es brauchen? Für eine Antwort muss man auf die Form der Gesellschaft gucken, in der produziert wird.
Für unsere heutige Gesellschaft, den Kapitalismus, ist die Frage zu verneinen. Zwar bringt sie offensichtlich Fülle für einige hervor, aber diese geht auf Kosten anderer – insbesondere der Menschen in der Dritten Welt, in den armen Ländern, die von der kapitalistisch produzierten Fülle großteils ausgeschlossen sind. Fülle für alle ist unter kapitalistischen Verhältnissen grundsätzlich nicht möglich. Dafür gibt es mehrere Gründe.
Zum einen geht es im Kapitalismus immer um Kapitalverwertung, also darum, aus Geld mehr Geld zu machen. Das geht aber nur, wenn ich produziere, also Ressourcen einsetze. Wenn die Geldvermehrung funktioniert, das vorhandene Kapital gewachsen ist, muss es neu angelegt werden und noch weiter wachsen. Dieser permanente Wachstumszwang muss dazu führen, dass die Ausnutzung der Biokapazität zwangsläufig über die dauerhaft möglichen Grenzen hinaus getrieben wird. Dass wir heute mehr Biokapazität vernutzen, als nachhaltig verfügbar ist, ist also systembedingt. Unter kapitalistischen Bedingungen ist nichts anderes möglich, denn ohne Wachstum kommt es zur Krise: die Verwertung mancher Kapitalien scheitert, Firmen gehen Pleite, Menschen werden arbeitslos und damit von der kapitalistisch produzierten Fülle weitgehend ausgeschlossen. Es gibt somit nur zwei schlechte Alternativen: Krise ist schlecht für die Menschen, aber dauerhaftes Wachstum geht notwendigerweise auf Kosten der Natur.
Zweitens ist Fülle für alle auch deswegen ausgeschlossen, weil kapitalistisch produzierte Güter verkauft werden müssen – andernfalls kann man damit kein Geld verdienen. Verkaufen kann man Dinge aber nur, wenn sie knapp sind, es nicht genug davon gibt. Andernfalls tendiert der Preis gegen Null. Dann gehen Hersteller Pleite, die Verwertung scheitert, und der entsprechende Bereich wird für die kapitalistische Wertverwertung uninteressant, sofern nicht durch „Marktbereinigung“ wieder Knappheit hergestellt werden kann. Vor diesem Problem steht heute die Musikindustrie, da man Musik Dank des Internets so leicht mit anderen teilen kann, dass sie im Überfluss vorhanden ist.
Zum dritten besteht ein Konflikt zwischen Fülle für alle und einem weiteren Grundprinzip des Kapitalismus: der Konkurrenz. Konkurrenz bedeutet, dass die Gewinne der einen die Verluste der anderen sind. Ganz gleich ob Firmen um Marktanteile konkurrieren oder Menschen um Arbeitsplätze: Durchsetzen können sich nur einige, für die anderen bleibt die Pleite oder die Arbeitslosigkeit. Fülle gibt es vielleicht für die, die gewinnen, aber den Verlierer/innen im Konkurrenzkampf bleiben nur bescheidene staatliche Almosen.
Gemeinsam produzieren statt gegeneinander arbeiten
Es braucht also eine andere Produktionsweise, und das bringt uns zu der zweiten zu Beginn aufgeworfenen Frage, ob den Freuden des Konsums nicht notwendigerweise die Plage des Produzierens „im Schweiße deines Angesichts“ vorangehen muss. Im Kapitalismus wird die Arbeit als Mittel zum Zweck betrachtet – Firmen beschäftigen Arbeiter/innen, um verkaufbare Waren zu produzieren, und die Menschen arbeiten, um Geld zu verdienen, das sie zum Leben brauchen. Wenn Politiker/innen sagen, dass die „Anreize zum Arbeiten erhöht werden müssen“, meinen sie damit Sanktionen gegen Menschen, die (vermeintlich oder tatsächlich) nicht arbeiten wollen. Arbeiten scheint etwas zu sein, was man nur gezwungenermaßen macht, sodass das „gute Leben“ immer dann pausiert, wenn man den Arbeitsplatz betritt.
Aber muss das so sein? Schaut man sich um, beispielsweise im Internet, stellt man fest, dass schon heute vieles auf eine Weise produziert wird, die der gängigen Vorstellung von Arbeit als etwas, das man nur gegen (Schmerzens-)Geld erledigt, widerspricht. Zahllose Menschen schreiben freiwillig und ohne Bezahlung an der freien Enzyklopädie Wikipedia mit; sie stellen Freie Texte und Freie Musik ins Internet, die jede/r nicht nur lesen bzw. anhören, sondern auch weitergeben und verändern darf; sie entwickeln Freie Software wie das Betriebssystem GNU/Linux, den Webserver Apache und den Webbrowser Firefox; sie bauen Freie Funknetze auf, die allen in der Umgebung kostenlosen Internetzugang ermöglichen; sie entwerfen Möbel, Kleidungsstücke, Maschinen und viele andere Dinge und stellen die Baupläne zur freien Verwendung und Weiterentwicklung ins Internet.
Diese commonsbasierte Peer-Produktion ist dabei längst keine Randerscheinung mehr, sondern ein unabdingbarer Bestandteil der modernen Welt (vgl. die Streifzüge-Kolumne „Immaterial World“ von Stefan Meretz sowie Siefkes 2010). Das Internet würde ohne Freie Software nicht funktionieren, und die Wikipedia hat sich für viele Menschen zur Informationsquelle Nr. 1 entwickelt.
Peer-Produktion basiert auf dem Bedürfnisprinzip: Im Gegensatz zur herkömmlichen kapitalistischen Produktion geht es nicht um den abstrakten Zweck der Geldvermehrung, sondern die konkreten Bedürfnisse, Wünsche und Ziele der Beteiligten bestimmen, was passiert. Dadurch ändert sich auch der Charakter des Tuns: Viele der Beteiligten arbeiten an solchen Projekten nicht mit, weil sie damit Geld verdienen (obwohl es das auch gibt), sondern weil ihnen gefällt, was sie da tun, aus Interesse an den Dingen, die da entstehen, weil man etwas dabei lernt oder weil man den anderen etwas zurückgeben möchte. Die Wikipedia z.B. funktioniert nur deshalb, weil hier die anstrengende und monotone Arbeit des Enzyklopädie-Schreibens durch etwas ersetzt ist, was viele Menschen gerne und freiwillig machen.
„Commonsbasiert“ ist die Peer-Produktion, weil sie auf Gemeingütern (engl. Commons) aufbaut und ihrerseits neue Gemeingüter herstellt oder die vorhandenen verbessert und betreut. Gemeingüter sind Güter, die von einer Gemeinschaft entwickelt und gepflegt und den Nutzer/innen zur Verfügung gestellt werden. Die Gemeinschaft, die sich um ein Gemeingut kümmert, legt fest, wer es nutzen kann – mindestens die Mitglieder der Community, oft aber auch viele andere, im Falle von Freier Software und anderen Formen Freien Wissens sogar die ganze Welt. Das wird durch Freie Lizenzen (wie die GNU GPL und die Creative-Commons-Lizenzen) formell festgeschrieben.
Da die Mitarbeit bei Peer-Projekten freiwillig ist, muss niemand vorbestimmte Aufgaben übernehmen. Die Aufgabenverteilung erfolgt gemäß dem Stigmergie-Prinzip (vgl. Heylighen 2007). Die Beteiligten hinterlassen Hinweise auf begonnene oder gewünschte Arbeiten, die andere dazu anregen, sich darum zu kümmern. Zu solchen Hinweisen gehören etwa To-Do-Listen und Bug-Reports in Softwareprojekten und „rote Links“ (auf noch nicht existierende Artikel) in der Wikipedia. Viele der Neueinsteiger/innen orientieren sich an den Hinweisen, ebenso jene, die eine bestimmte Arbeit abgeschlossen haben und neue Aufgaben suchen. Je mehr Beteiligten eine Sache am Herzen liegt, desto sichtbarer werden die Hinweise und desto größer die Chance ihrer Bearbeitung.
Mit Peer-Produktion zum guten Leben?
Peer-Produktion kommt der Idee des guten Lebens zweifellos näher als die kapitalistische Produktion – man beteiligt sich freiwillig an Projekten, die einer/einem wichtig sind, und arbeitet dabei mit anderen gleichberechtigt (als „Peers“) zusammen, statt sich einem Chef oder einer Obrigkeit unterordnen zu müssen. Aber kann die Peer-Produktion, was der Kapitalismus nicht kann: Fülle in dem oben genannten zweiten Sinne produzieren, also „was man braucht, wenn man es braucht“? Und zwar nicht nur in einigen Bereichen (z.B. Software) und nicht nur für manche Menschen, sondern in allen Bereichen und für alle?
Um dies möglich zu machen, muss die Peer-Produktion den Sprung von der immateriellen in die materielle Welt schaffen, sodass nicht nur Informationsgüter, sondern auch materielle Güter und Dienstleistungen peer-produziert werden. Aber geht das überhaupt – funktioniert Peer-Produktion nicht nur deshalb, weil Informationen so einfach kopiert und bearbeitet werden können?
Auch wenn nicht wenige Autor/innen glauben, dass die leichte Kopierbarkeit den Informationen inhärent ist, handelt es sich tatsächlich eher um eine Frage der richtigen Infrastruktur. Noch vor 30 Jahren war etwa die verlustfreie Vervielfältigung von Musik Konzernen mit teuren Spezialmaschinen vorbehalten, wie Glyn Moody (2010) betont. Erst die Verbreitung von Internet-Breitbandanschlüssen und hinreichend großen Datenträgern hat sie alltäglich gemacht.
Ähnliche Entwicklungen sind für die Herstellung materieller Dinge nicht nur denkbar, sondern in bestimmten Bereichen schon im Gange. Die Vervielfältigung materieller Dinge ist unter drei Voraussetzungen möglich: Man muss über die gesamten Baupläne sowie über die benötigten Produktionsmittel und Ressourcen verfügen. Im folgenden Abschnitt soll kurz skizziert werden, wie eine verallgemeinerte Peer-Produktion diese Voraussetzungen erfüllen kann.
Bausteine einer verallgemeinerten Peer-Produktion
Die Betrachtung der heutigen Formen der Peer-Produktion zeigt, dass die verwendeten Ressourcen und Produktionsmittel im Allgemeinen Gemeingüter oder verteilter Besitz sind. Bei digitaler Peer-Produktion sind Wissen und Informationen die wichtigsten Ressourcen. Sie gelten dabei als Gemeingüter, die von allen genutzt und weiterentwickelt werden können. Exemplarisch für eine bei Peer-Produzierenden weitverbreitete Ansicht formuliert die Wikimedia Foundation, die hinter der Wikipedia steht, sogar den Anspruch, dass alles öffentlich relevante Wissen Gemeingut sein sollte:
Stellen Sie sich eine Welt vor, in der jeder Mensch freien Zugang zur Gesamtheit allen Wissens hat. Das ist unser Ziel. (Wikimedia 2010, eigene Übersetzung)
Eine Form Freien Wissens ist Freies Design, auch Open Hardware genannt. Open-Hardware-Projekte entwerfen materielle Dinge und teilen ihre Baupläne und Konstruktionsbeschreibungen mit der ganzen Welt. Dieser Bereich der Peer-Produktion ist noch relativ jung, aber in den letzten Jahren sind zahlreiche neue Projekte entstanden. Das US-amerikanische Magazin Make hat Ende 2009 einen großen Report zum Thema veröffentlicht (Make 2009), der weit über hundert Projekte enthielt – seitdem dürften es noch deutlich mehr geworden sein. Dieses Freie Produktionswissen darüber, wie Dinge hergestellt werden (aber auch, wie man sie benutzt, wartet, repariert und schließlich fachgerecht recycelt), ist der erste Baustein der materiellen Peer-Produktion.
Die wesentlichen Ressourcen – bei digitaler Peer-Produktion das Wissen – werden in der Logik der Peer-Produktion also als Gemeingüter behandelt. Für die materielle Peer-Produktion, die nicht nur Wissen, sondern auch natürliche Ressourcen benötigt, bedeutet dies, dass gemäß der Logik der Peer-Produktion die Naturressourcen ebenfalls als Gemeingüter zu betrachten sind. Die entsprechende Schlussfolgerung hat schon Karl Marx gezogen:
Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias [gute Familienväter] den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen. (Marx 1894)
Dass natürliche Ressourcen gemäß dieser Logik zum Gemeingut werden, bedeutet, dass niemand Exklusivrechte auf sie erheben, sie verwerten oder verkaufen kann. Sie müssen in ihrer Substanz erhalten bleiben, dürfen also genutzt, aber nicht aufgebraucht werden. Jede/r hat in diesem Rahmen das Recht auf anteilige Nutzung, wobei der ökologische Fußabdruck oder verwandte Messgrößen Richtwerte vorgeben können. Bei der heutigen Bevölkerungsgröße könnten die von einer Person genutzten Güter also natürliche Ressourcen im Umfang von maximal 1,8 globalen Hektar erfordern. Nur so kann mit der ersten Herausforderung, der Begrenztheit der irdischen Ressourcen, auf eine Weise umgegangen werden, bei der niemand zu kurz kommt.
Die Bewahrung und Nutzung der natürlichen Ressourcen als Gemeingüter ist der zweite Baustein der materiellen Peer-Produktion. Die Durchsetzung dieser Logik ist wahrscheinlich die größte Herausforderung für die Verallgemeinerung der Peer-Produktion, da sie mit der heutigen Auffassung praktisch aller Dinge, einschließlich großer Teile der Natur, als Privateigentum radikal bricht.
Jede Produktion ist auf Produktionsmittel angewiesen – zum Beispiel auf die Maschinen, mit denen etwas produziert wird. Im Bereich der digitalen Peer-Produktion gehören die Produktionsmittel meist vielen verschiedenen Leuten. Zum Schreiben von Freier Software verwende ich meinem eigenen Computer, der offiziell mein Eigentum ist. Ich dürfte ihn verkaufen oder auch vermieten, aber das tue ich nicht, sondern ich benutze ihn. Dies wird als Besitz bezeichnet: Besitz ist, was man benutzt. Die Wohnung, die ich gemietet habe, ist mein Besitz, aber das Eigentum meines Vermieters.
Bei digitaler Peer-Produktion fallen Besitz und Eigentum bei den materiellen Produktionsmitteln meist zusammen, aber worauf es ankommt, ist der Besitz. Die Produktionsmittel werden benutzt, nicht verwertet. Dabei ist dieser Besitz über viele Menschen verteilt. Es gibt keine Einzelperson oder kleine Gruppe von Personen, die alle Rechner kontrolliert, die die am Linux-Projekt Beteiligten benutzen. Durch die Verteilung des Besitzes werden einseitige Abhängigkeitsverhältnisse verhindert. Niemand kann die anderen blockieren, indem er die Nutzung der Produktionsmittel verweigert oder unter Bedingungen stellt.
Die Entwicklung im Bereich materieller Peer-Produktion geht in eine ähnliche Richtung: Dezentrale produktive Infrastrukturen entstehen, die sich die Beteiligten zum Zweck ihrer Bedürfnisbefriedigung organisieren. Es geht darum, zu produzieren, was man haben möchte, oder zu tun, was man gerne tut, nicht ums Geldverdienen. Dabei sind die produktiven Infrastrukturen so verteilt, dass niemand den Zugang zu diesen Produktionsmitteln kontrollieren kann.
Ein Beispiel sind Mesh-Netzwerke. Das klassische Modell eines Netzzugangs ist hierarchisch: Ein Provider bietet Tausenden oder Hunderttausenden von Menschen Zugang zum Internet. Der Provider kann jeder/m Einzelnen gezielt den Zugang nehmen; er kann Zugänge zensieren und überwachen, was die Nutzer/innen machen; und wenn ihm selbst der Zugang abgeschnitten wird, sind alle seine Kund/innen offline. Dagegen sind Mesh-Netzwerke dezentrale Netzwerke, in denen alle beteiligten Computer gleich sind: Jeder kann mit allen anderen direkt per Funk kommunizieren, sofern sie in seiner Reichweite sind; wenn nicht, suchen sich die betroffenen Rechner einen möglichst schnellen Weg über andere Computer in ihrer Nähe. Es gibt keine zentralen Server, die abgeschaltet werden könnten, und wenn einzelne Rechner ausfallen, sucht sich das Netzwerk andere Wege um die fehlenden Rechner herum. Es gibt also keine zentrale Instanz, die das Netzwerk oder Teile davon kontrollieren könnte.
Die Einwohner/innen der südafrikanischen Stadt Scarborough organisieren sich mittels eines solchen Mesh-Netzwerks Internet und Telefonie. Die nötige Hardware ist über viele Leute verteilt – wer beitragen möchte, kauft sich einen WLAN-Router, eine Antenne oder andere nötige Hardware. Es gibt niemand, dem das ganze Netz oder ein größerer Teil davon gehört; niemand, der es abschalten oder zensieren könnte. Die benötigte Software und ein Teil der nötigen Hardware wird als Freie Software und Open Hardware entwickelt, kann also selber angepasst und ggf. hergestellt werden (vgl. Rowe 2010).
Was heute in einigen Städten schon für Internet und Telefon funktioniert, ist auch für die dezentrale Versorgung mit (Solar- und Wind-)Energie oder Wasser denkbar. Selbstorganisierte Projekte zur Wasserversorgung existieren beispielsweise in Südamerika (vgl. De Angelis 2010).
Ein weiteres Beispiel sind die im Bereich der digitalen Peer-Produktion weitverbreiteten Hackerspaces (siehe hackerspaces.org) – selbstorganisierte Räume (wie sie auch in der linken Szene existieren), wo sich Menschen treffen, um beispielsweise Freie Software zu schreiben oder zur Wikipedia und anderen Freien Projekten beizutragen. Hackerspaces sind immer auch Lernräume, wo man Workshops veranstalten oder sein Wissen informell teilen und an andere weitergeben kann; zudem dienen sie der Entspannung und Erholung. Finanziert werden sie üblicherweise durch freiwillige Beiträge der Benutzer/innen – laufende Kosten wie die Miete werden über einen Verein gedeckt, an den jede/r ein paar Euro pro Monat überweist. Die Nutzung des Raums ist dabei aber üblicherweise nicht an eine Vereinsmitgliedschaft gebunden, sondern steht allen frei.
Im Bereich der materiellen Produktion wurden in Dutzenden von Städten sogenannte Fab Labs (fab.cba.mit.edu) eingerichtet – im deutschsprachigen Raum gibt es schon sechs davon, nämlich in Aachen, Berlin, Köln, München, Wien und Luzern. Von der Idee her sind Fab Labs ähnlich wie Hackerspaces selbstorganisierte Räume, wobei sie heute noch teuer sind und meist von Universitäten oder anderen größeren Organisationen gesponsert werden müssen. In solchen Labs gibt es eine ganze Reihe von Produktionsmaschinen, die von den Menschen in der Umgebung benutzt werden können. Fab Labs verfügen u.a. über CNC-Maschinen, die computergesteuert Materialblöcke zurechtschneiden oder -fräsen können, sowie über Fabber (auch 3D-Drucker genannt), die Gegenstände umgekehrt aus vielen Schichten aufbauen, wobei die einzelnen Schichten quasi „ausgedruckt“ werden und daraus Schicht für Schicht ein dreidimensionaler Gegenstand entsteht.
Fast alle heutigen Produktionstechniken werden tendenziell kleiner und eher verfügbar für begrenzte Gruppen (beispielsweise für Leute, die Hackerspaces betreiben), ohne dass diese dafür viel Geld ausgeben müssten. Heute sind die Fab Labs noch teuer, weil sie auf proprietäre Maschinen setzen, die auf dem Markt eingekauft werden müssen und entsprechend viel kosten. Dies ändert sich aber allmählich, da in den letzten Jahren diverse Peer-Projekte entstanden sind, die CNC-Maschinen, 3D-Drucker und andere Produktionsmittel entwerfen und ihre Ergebnisse als Open Hardware veröffentlichen. Solche Freien Produktionsmittel – kleine CNC-Maschinen wie Contraptor (www.contraptor.org) und Valkyrie (letsmakerobots.com/node/9006), kleine Fabber wie RepRap (reprap.org) und Fab@Home (fabathome.org) – sind noch nicht konkurrenzfähig mit der kapitalistischen Massenproduktion, aber in bestimmten Bereichen auch nicht mehr so weit davon entfernt.
Sobald die Maschinen selber das Ergebnis von Peer-Produktion sind und im Rahmen solcher produktiver Zentren selbst wiederum hergestellt, also vervielfältigt werden können, wird es spannend. Denn so wird eine partielle Abkoppelung vom Markt möglich, wo man die Dinge nicht mehr kaufen muss, sondern sie in Peer-Produktion gemeinsam herstellen kann. Die selbstorganisierte Bereitstellung und Verwendung von Produktionsmitteln ist der dritte Baustein der materiellen Peer-Produktion.
All das würde nie zustande kommen ohne die Menschen, die in freiwilliger Selbstauswahl nützliche Dinge entwerfen und ihr Wissen teilen, natürliche Ressourcen zugänglich machen und erhalten sowie selbstorganisierte Produktionsinfrastrukturen einrichten und betreiben. Die freiwilligen Beiträge der Beteiligten, die – jede/r auf die Art und Weise, die ihren oder seinen Bedürfnissen und Interessen entspricht – dazu beitragen, dass Peer-Projekte (sei es für Software oder materielle Produktion) erfolgreich sind, sind der vierte und zweifellos wichtigste Baustein.
Fairness-Fragen
Kann eine Gesellschaft auf der Basis von Peer-Produktion und Selbstorganisation tatsächlich aus eigener Kraft funktionieren? Oder ist sie in bestimmten Bereichen der gesellschaftlichen Organisation auf herkömmliche Elemente der Vergesellschaftung – wie Staat, Polizei, Markt – angewiesen? Der Ruf nach einer zentralen Regulierungsinstanz kommt besonders schnell bei Fragestellungen auf, die sich unter dem Begriff der Fairness (oder Gerechtigkeit) fassen lassen.
Dies betrifft zum einen den Zugang zu Ressourcen. Gemäß der Logik der Peer-Produktion können Ressourcen genutzt werden, sofern sie in ihrer Substanz für die Nachwelt erhalten bleiben und sofern für die anderen jeweils ähnlich viel da ist wie für eine/n selbst. Doch was geschieht, wenn sich einige über diese Begrenzungen hinwegsetzen und langfristig so viel verbrauchen, dass sie die durchschnittlich pro Person verfügbare Biokapazität deutlich überschreiten und so auf Kosten anderer leben?
Die Verhinderung und Sanktionierung solchen Fehlverhaltens scheint zunächst eine zentrale, staatliche Instanz zu erfordern, doch die Praktiken heutiger Peer-Projekte zeigen, dass es auch anders geht. Die Beteiligten reagieren auf Fehlverhalten mit „flaming and shunning“, was man auf Deutsch mit „Schimpfen und Schneiden“ wiedergeben könnte (vgl. Lehmann 2004). Man beschimpft die Übeltäter/in zunächst, es kommt zu „Flames“, lautstark und öffentlich (z.B. auf Mailinglisten) geäußerter Kritik. Werden diese Warnungen ignoriert, kann der/die Betroffene „geschnitten“ werden, d.h. man verweigert die weitere Zusammenarbeit mit ihr oder ihm. Das kann bis zum Boykott, bis zum zeitweiligen oder dauerhaften Ausschluss aus dem Projekt führen.
Nun sind aber in jeder Gesellschaft die Menschen auf andere angewiesen – ohne die Zusammenarbeit mit anderen ist das Überleben schwierig und ein gutes Leben definitiv unmöglich. Wenn der allgemeine Konsens dahin geht, bestimmte Verhaltensweisen nicht zu akzeptieren und mit Kooperationsverweigerung zu sanktionieren, werden sich solche Verhaltensweisen daher kaum aufrecht halten lassen.
Ein anderer möglicherweise problematischer Bereich betrifft die Verteilung von Aufgaben. Normalerweise funktioniert Peer-Produktion auf der Basis von Selbstauswahl und Stigmergie. Jede/r sucht sich Aufgaben aus, die ihr oder ihm gefallen oder wichtig sind, und orientiert sich dabei an den Hinweisen, die andere hinterlassen. Doch wie geht man damit um, wenn das bei bestimmten Aufgaben nicht funktioniert, wenn sich dafür keine Freiwilligen finden?
Eine erste Frage ist, ob solche Aufgaben tatsächlich notwendig sind. Wenn sie niemandem so wichtig sind, dass sie oder er zu ihrer Erledigung bereit wäre, dann kann man darauf vielleicht einfach verzichten? Wenn das nicht der Fall ist, bleibt als weitere Möglichkeit zum Umgang mit solchen unbeliebten Aufgaben die Automatisierung. Automatisierung hat seit Beginn der „industriellen Revolution“ ja schon enorme Wirkungen entfaltet; immer größere Teile der Produktion werden ganz oder teilweise automatisiert. Besonders gut geeignet für die Automatisierung sind dabei Aufgaben, die eintönig und repetitiv und deshalb wenig beliebt sind. Kreative Aufgaben, die menschliche Intelligenz und Intuition erfordern, bleiben übrig, sind erfahrungsgemäß aber auch weniger problematisch, da sie spannend und reizvoll sind.
Allerdings stellt im Kapitalismus der Lohn eine Grenze der Automatisierung dar – je schlechter bezahlt ein Job ist, desto schwieriger wird es, ihn ohne Mehrkosten zu automatisieren. Viele undankbare Tätigkeiten wie z.B. das Putzen werden aber so schlecht bezahlt, dass unter kapitalistischen Umständen ihre Automatisierung wenig sinnvoll ist. Wenn es dagegen bei Peer-Produktion Aufgaben gibt, an deren Erledigung alle oder viele interessiert sind, die aber niemand selber erledigen will, dann ist der Anreiz, sie ganz oder teilweise zu automatisieren, sehr hoch. Und da die Automatisierung von Tätigkeiten selbst eine spannende und herausfordernde Beschäftigung ist, sind die Chancen, dafür Freiwillige zu finden, sehr viel besser.
In vielen Fällen lassen sich Tätigkeiten auch so umorganisieren und umgestalten, dass sie interessanter und angenehmer werden. Im Kapitalismus finden die undankbaren Arbeiten meist unter sehr schlechten Bedingungen statt (z.B. Büros putzen um 4 Uhr morgens), aber diese Rahmenbedingungen sind der Aufgabe nicht inhärent. Bei Peer-Produktion entscheiden die Freiwilligen, unter welchen Umständen sie eine Aufgabe übernehmen und wie sie sie ausgestalten. Sie können also sagen: „Wir machen das tagsüber, und wenn das den anderen nicht passt, sollen sie’s selber machen.“
Falls aber weder Automatisierung noch Umorganisation greifen, können die Betroffenen Faustregeln zur fairen Aufteilung dieser Aufgaben entwickeln. Alle, die an der Erledigung Interesse haben, übernehmen hin und wieder im Wechsel eine der Aufgaben. Auf diese Weise hat niemand allzu viel damit zu tun.
Peer-Produktion ist kein Allheilmittel zur Lösung aller gesellschaftlichen Probleme, aber sie eröffnet vielfältige Möglichkeiten, sich mit anderen zusammenzutun und sich gemeinsam der Dinge anzunehmen, die einer/einem wichtig sind. Unter kapitalistischen Umständen ist kein gutes Leben für alle möglich. Die Voraussetzungen der verallgemeinerten Peer-Produktion sind sehr viel besser, weil sie auf dem Bedürfnisprinzip basiert: Menschen tun sich zusammen und produzieren etwas, weil es ihren produktiven oder konsumtiven Bedürfnissen entspricht. Anders als im Kapitalismus, wo sich im Konkurrenzkampf jede/r strukturell gegen die anderen durchsetzen muss, muss bei gemeinsamer Produktion Bedürfnisbefriedigung aber weder auf Kosten anderer noch auf Kosten der Natur gehen. Im Gegenteil: Peer-Produktion funktioniert deshalb so gut, weil sich die Menschen gegenseitig bei der Befriedigung ihrer Bedürfnisse unterstützen, was für alle Beteiligten von Vorteil ist.
Literatur
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Moody, Glyn (2010): Ethics of Intellectual Monopolies, Keynote auf der FSCONS 2010.
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