KOLUMNE Immaterial World
von Stefan Meretz
Waren müssen knapp sein, um verkauft zu werden. Sind sie es nicht, so werden sie künstlich knapp gemacht: Die Ernte wird vernichtet, die Haltbarkeit reduziert und das Nachmachen oder Kopieren verboten. Der Staat regelt, überwacht und unterbindet die Nutzung von Gütern, Fertigkeiten und Wissen in Form von Gesetzen. Aus Sicht des Kapitals sind diese Gesetze leider in den Ländern verschieden. Das erschwert die Verfolgung der sogenannten Produktpiraten und Raubkopierer.
Bislang wurden für die globale Vereinheitlichung der juridischen Verknappungsinstrumente gerne UN-Organisationen in Anspruch genommen. Die „Weltorganisation für geistiges Eigentum“ (WIPO) dient dazu, entsprechende Urheberechtsverträge auszuhandeln, um die Ansprüche der Inhaber immaterieller Monopolrechte durchzusetzen. Diese sitzen meistens im Norden.
In UN-Organisationen gilt in der Regel das Prinzip „ein Land, eine Stimme“. Mit dem zunehmenden Beitritt von Ländern aus dem globalen Süden konnten diese Länder Verschärfungen der WIPO-Verträge verhindern und ihre Interessen nach Schutz des traditionellen Wissens vor unerlaubter Aneignung (Stichwort „Biopiraterie“) auf die Agenda setzen. Der Versuch der Nord-Länder, die Aufgabe in den Bereich des Freihandelssystems GATT zu verschieben, um dort das „Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums“ (TRIPS) durchzusetzen, wurde von den Süd-Ländern ausgebremst.
Mit dem Handelsabkommen ACTA (Anti-Counterfeiting Trade Agreement) nehmen die Nord-Länder nun einen neuen Anlauf, ihre Ziele der Durchsetzung von Immaterialgüter-Monopolrechten zu erreichen. Um den Einfluss des Südens möglichst herauszuhalten, wurden die Verhandlungen geheim geführt. Die US-Regierung deklarierte sie gar zum Staatsgeheimnis. Insider „leakten“ die entsprechenden Dokumente dennoch: Sie stellten die Entwürfe komplett ins Internet.
Mit ACTA soll die komplette Packung der sogenannten „geistigen Eigentumsrechte“ völkerrechtlich verbindlich vereinbart werden. Die Liste ist lang: Urheberrecht, Patente, Markenrecht, Gebrauchs- und Geschmacksmuster, geografische Herkunftsbezeichungen („Champagner“) usw. Drei Punkte fielen schnell als besonders krass auf: Provider-Haftung, Three-Strikes-Methode und Umgehungsverbot.
Mit Provider-Haftung ist die Verpflichtung von Providern gemeint die Kund_innen – also alle Netznutzer_innen – auszuschnüffeln, ob sie den gemieteten Netzzugang für illegale Aktivitäten verwenden. Damit ist vor allem die Verbreitung von Musik und Filmen über Tauschbörsen gemeint. Die Provider sollen ihre Kunden mit der Three-Strikes-Methode selbst bestrafen. Nach drei Verstößen gegen das Urheberrecht wird der Netzzugang gesperrt. Das Umgehungsverbot zielt darauf ab, das Verbreiten von potenziell zum Knacken von Kopierschutz nutzbarer Software zu illegalisieren. Brisant ist hier, dass eine Verfolgung einsetzt, obwohl gar keine Urheberrechtsverletzung vorliegt.
Vor allem aufgrund des Drucks von außen durch NGOs und Proteste der Süd-Länder wurden zahlreiche „radikale“ Verschärfungen wieder aus den ACTA-Entwürfen gestrichen. So wurde die Provider-Haftung entfernt, und auch von Three-Strikes ist nicht mehr die Rede. Doch über schwammige Soll-Bestimmungen befürchten Internetdienste-Anbieter, dass „private Internet-Cops“ durch die Hintertür doch wieder eingeführt werden. Und auch wenn Three-Strikes nicht mehr erwähnt wird, sind monetäre Bedrohungen für „Urheberrechtsverletzer“ durch leichter durchsetzbare „Schadenersatzansprüche“ massiv gewachsen.
Auch liberale Urheberrechts-Befürworter sehen die „Balance“ zwischen den Interessen der Verwerter „geistigen Eigentums“ und den Interessen der Nutzer_innen massiv zu Gunsten der Eigentums-Lobby verschoben. Sie sind jedoch keinesfalls gegen die Verwertung von Kreativität, sie wollen sie nur durch einen breiten gesellschaftlichen Konsens abgesichert sehen. Auch die Süd-Länder sind nur insofern gegen verschärfte Regeln des „geistigen Eigentums“, als sie weiterhin kostengünstig Generika (wirkstoffgleiche Medikamentenkopien) produzieren sowie Technologien und Medieninhalte nutzen wollen.
In dem Maße wie Aufsteiger-Länder wie China, Indien und Brasilien selbst neue Technologien entwickeln, steigt die Interessenkongruenz mit den Nord-Ländern. Darauf setzen auch die ACTA-Prozessdesigner. Sie wollen einen möglichst klaren „Schutz für geistiges Eigentum“ festschreiben und fordern dann Entwicklungs- und Schwellenländer auf, sich dem Abkommen anzuschließen. Wirtschaftliche Daumenschrauben des Nordens sollen dann die Beitrittslust befördern.
Dieses Spiel konkurrenter Partialinteressen geht am Ende zu Lasten der Menschen in allen Ländern, gleichwohl in unterschiedlicher Schärfe. Während unbedarfte Käufer eines Mobilspielzeugs, das Plagiat-Chips enthält, sich plötzlich Schadenersatzforderungen gegenüber sehen, kann die Verteuerung von Medikamenten aufgrund der erzwungenen Schließung einer Generika-Fabrik im Süden ein Todesurteil für viele Menschen bedeuten.
Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es? Zunächst gibt es noch Chancen den ACTA-Prozess zu blockieren (vgl. stopacta.info). Sollten die ACTA-Verhandlungen abgeschlossen sein, so ist eine wichtige nächste Hürde die Ratifizierung in den Vertragsländern bzw. insgesamt in der EU. Hier hat das EU-Parlament die Möglichkeit, die Zustimmung zu verweigern. Druck auf Abgeordnete könnte verbreitete Vorbehalte in eine Ablehnung verwandeln. Vorbild dafür ist die Zurückweisung von Software-Patenten im Jahr 2005.
Doch eine Blockade ist nur eine Verzögerung. In der kapitalistischen Logik muss die Verwarenformung von immer mehr Lebensbereichen voranschreiten. Die auch in der kritischen Öffentlichkeit weitgehend akzeptierte Ideologie des „geistigen Eigentums“ ist die Grundlage dafür. Sie muss dechiffriert werden als das, was sie ist: die künstliche Verknappung reichlich vorhandener Ergebnisse menschlicher Lebenstätigkeit.
Jede Entwarenformung bedeutet für Einzelne jedoch immer auch einen monetären Einkommensverlust. Dieser kann nur aufgefangen werden, wenn es uns gelingt, solidarische Commons-Strukturen aufzubauen, die für die Beteiligten die Notwendigkeit reduziert, monetäre Einkünfte zu erzielen. Entwarenformung und Commons-Aufbau müssen Hand in Hand gehen.