Zur Theorie des Informationskapitalismus

Teil 1: Von der negatorischen Haltung zur Theorie der Aufhebung

Streifzüge 1/2003

von Stefan Meretz

In der Reihenfolge der von Ernst Lohoff in seinem Artikel (Streifzüge 3/2002) angesprochenen Themenbereiche möchte ich folgende drei Aspekte in zwei Teilen diskutieren:

  1. Die Transformation denken: Zur Rolle des Keimform-Begriffes (Teil 1)
  2. Den Informationskapitalismus analysieren: Zur un/produktiven Arbeit (Teil 2)
  3. Die unsichtbare Front wahrnehmen: Zu aktuellen Angriffen (Teil 2)

Teil 1:

Die Transformation denken: Zur Rolle des Keimform-Begriffes

In Streifzüge 1/2003 erscheint der folgende 1. Teil, der 2. Teil wird in 2/2003 folgen.

In kritischer Absicht resümiert Ernst Lohoff meine Bemühungen: „In Stefan Meretz‘ „Meta-Replik“ vermischt sich die Überlegung, woran der Ausbruch aus der Warenform in einem spezifischen gesellschaftlichen Bereich praktisch anknüpfen kann, mit einem affirmativen Bezug auf die eigenen Produktions- und Lebensgewohnheiten.“ [1] – Ja, so ist es, denn ich halte einen bejahenden Bezug auf die eigenen Produktions- und Lebensgewohnheiten, die Ernst Lohoff im übrigen gar nicht kennt, für einen adäquaten Ansatz.

Um den vermeintlich kritischen Impetus verstehen zu können, muss man wissen, dass Ernst Lohoff das InformatikerIn-Sein für elitär hält. Mal abgesehen davon, dass hier offensichtlich kaum Vorstellungen über die Tätigkeiten von InformationsarbeiterInnen vorliegen: Kann von der Tatsache, dass InformationsarbeiterInnen beim Verkauf ihrer Arbeitskraft einen relativ hohen (aber derzeit sinkenden) Preis erzielen, auf ein Elite-Sein oder gar Elite-Bewusstsein geschlossen werden? Und ist dieses Elite-Bewusstsein dann das in der Bewegung der Freien Software bestimmende? Ich empfehle, sich über die Lage der InformationsarbeiterInnen im Allgemeinen und die der in der Freien Softwarebewegung Tätigen im Besonderen zu informieren. [2]

Doch auch wenn alle Unterstellungen zuträfen – was sagte das aus über die Beurteilungsmöglichkeiten von Ansatzpunkten zur Überwindung der warenförmigen Vergesellschaftung? Nichts. Der idealistische Grundzug in Ernst Lohoffs Argumentation – Erklärung von historischen Prozessen über den Primat des Bewusstseins – zeigt sich an vielen Stellen, etwa in der Mystifizierung des „bewussten und kollektiv organisierten Bruch(s) mit der warengesellschaftlichen Form“. Das wollte auch der Traditionsmarxismus, nur dass dieser meinte, den Bruch durch Lösung der „Eigentumsfrage“ zu erledigen. Über die (negative) Wiederkehr traditionsmarxistischer Argumentationsfiguren wird weiter zu reden sein.

Verdinglichter Begriff der Produktivkraftentwicklung

Zu den Imaginationen des Traditionsmarxismus gehört ein verdinglichter Begriff der Produktivkräfte. [3] Ernst Lohoff perpetuiert diesen in negativer Form: Weil er Produktivkraftentwicklung in verdinglichter Form nur als „bewusstlosen Prozess“ denken kann, erscheint ihm eine „bewusste Vergesellschaftung“ als Widerspruch – die mir unterschobene Aporie liegt mithin ganz bei ihm. Das wird deutlich, in dem er mir unterstellt, nur ein bisschen zu „menscheln“, ansonsten aber den traditionellen Begriff – in elitärer Fassung – weiterzutragen.

Welche Verkehrung! Ich hebe nicht nur einfach „die menschliche Seite hervor“, sondern fasse Produktivkraftentwicklung als „historischen Aspekt des Mittel schaffenden und nutzenden, mit der äußeren Natur stoffwechselnden Menschen“ (Meretz 2001a) oder mit anderen Worten: die je historisch qualitativ unterschiedliche Art und Weise der Produktion des gesellschaftlichen Lebens. Die dabei geschaffene Form der gesellschaftlichen Infrastrukturen bezeichne ich als Vergesellschaftungsform. [4] Ich behaupte ferner, zwischen erstem und zweitem besteht ein dialektisches Verhältnis, und schreibe darin erstem, der Art und Weise der Produktion des gesellschaftlichen Lebens, den Primat zu, während folgerichtig die geschaffene Form dem gegenüber sekundär ist.

Aus der Produktivkraftentwicklung einen bewusstlosen Prozess abzuleiten, macht ungefähr soviel Sinn wie die Aussage, dass es zu Fuß kürzer als über den Berg sei. Ob sich die Produktivkraftentwicklung als bewusstloser oder bewusster Prozess vollzieht, hat mit selbiger zunächst gar nichts zu tun. Dies kann man erst beurteilen, wenn man die gesellschaftliche Form, in der sich diese Produktion des gesellschaftlichen Lebens abspielt, also eben das Verhältnis von Produktivkraftentwicklung und Vergesellschaftungsform, in den Blick nimmt.

Schließt man nun aufgrund der bewusstlosen Vergesellschaftung über den Wert in der Warengesellschaft, dass die Vergesellschaftung schon immer bewusstlos gewesen sein müsse, dann liegt ein ontologisierender Kurzschluss vor. Und argumentiert man weiter, dass nun endlich die Zeit der Bewusstheit anbrechen müsse, was mangels Fundierung nur voluntaristisch gedacht werden kann, dann ist der idealistische Kreisschluss perfekt.

Negative, aber nicht aufhebende Abarbeitung am Traditionsmarxismus

Gleich dem Traditionsmarxismus kann auch Ernst Lohoff die Aufhebung nur als „Übernahme“ der vergegenständlichten Produkte der Wertvergesellschaftung denken: „Antipolitik Betreiben hieße keineswegs, mit irgendwelchen Brotkrumen, die vom Tisch der Wertverwertung herunterfallen, eine Elends- oder Hobbyökonomie aufzuziehen. Es geht um den Tisch selber sowie um die sukzessive Übernahme und den Umbau der Küche.“ Mal abgesehen von der contradictio in adjecto einer „Hobby-Ökonomie“ ist selbstredend die Kritik alternativer Elendsszenarien angebracht. Dennoch kann es mitnichten um eine „Übernahme der ganzen Küche“ gehen. Denn wie wäre das auch vorstellbar?

Nehmen wir an, uns Menschen, die wir ja Tisch und Küche herstellen, fällt – mangels weiterer Funktionsfähigkeit innerhalb der Wertform – der Tisch und schließlich die ganze Küche in die Hände. Und nun? Nun geht’s wohl an das Umbauen. Gleichzeitig müssen wir aber – selbst bei asketischer Aufopferung doch irgendwie – ein paar Basisbedingungen des profanen Überlebens im Wortsinne „herstellen“. Dies natürlich alles „ganz bewusst“ frei von Wert, Markt, Staat und sonstigem Overhead, den wir uns schon mal ersparen können.

Können wir? Die Werkzeuge, die wir in der Küche vorfinden, sind doch genau jene, in denen sich die Wertform zeigt: Die Wertform wird ja nicht nur den Subjekten aufgeherrscht, sondern erst recht, weil ohne Gegenwehr, den stofflichen und infrastrukturellen Produkten dieser Form der Vergesellschaftung. Da können wir nicht raus, da ist im Wortsinne keine Zeit zum Umbau. Die eben immer noch traditionsmarxistische Vorstellung einfacher Stufen gesellschaftlichen (Fort-) Schreitens, die erklommen werden, ist eine voluntaristische Fiktion. Da hilft kein Beschwören eines noch so kritischen Bewußtseins. Verdinglichung ist hier wörtlich zu nehmen: Die verdinglichten Produkte unseres warengesellschaftlichen Seins pfeifen uns hämisch weiter unsere Melodie vor, wenn wir dasselbe schon aus dem letzten Loch tun.

Deswegen, genau deswegen, waren die Überlegungen von Robert Kurz in „Antiökonomie und Antipolitik“ so wichtig: Sie brechen nicht nur mit den staatsfixierten „politischen“ Ideen der Machteroberung, sondern auch mit der linksradikalen Koketterie der Übernahme der ganzen Küche als Akt des klinisch reinen Bewusstseins. Aufhebung ist nur als dialektischer Prozess denkbar, eben nicht bloß als Negation im Kopfe, sondern als Negation der Negation, als bestimmte Negation in der Praxis.

Die negatorische Striktheit als Haltungsfrage

Ein weiteres Beispiel für die idealistische Neigung in der Argumentation ist der obligate Vorwurf, die „Keimform-Metapher“ öffne „dem Bedürfnis eine Tür, endlich einmal hier und heute auch ein wenig positiv werden zu dürfen“ – als ob es das komplementäre Bedürfnis, endlich einmal so richtig negativ sein zu dürfen, nicht gäbe. Dies wird verbunden mit der rhetorischen Frage, ob eine solche „Positiv-Orientierung“ dazu tauge, „theoretisch und praktisch aus der Defensive zu kommen“.

Positiv-Orientierung? Kann es heute noch einen positiven Bezug zur warenförmigen Vergesellschaftung emanzipativer Bestrebungen geben? Ernst Lohoff will doch diese Frage nicht ernsthaft erwägen, und – ich unterstelle – mir auch nicht ernsthaft stellen. Ich vermute, sie dient nur als Spiegelbild zur eigenen Formel von der „strikt negatorischen Stoßrichtung emanzipativer Bewegungen“. Was ist mit einer so formulierten „Negativ-Orientierung“ gegenüber dem Spiegelbild der „Positiv-Orientierung“ gewonnen? – Nichts. Es dient einzig der Selbstversicherung, für das „Positive“ nicht sein zu wollen, aber es sagt nichts über das Nicht-Negative aus, sondern verharrt in der einfachen Negation. [5]

Der positive wie der negative Bezug auf die warenförmige Vergesellschaftung hat eben jene als Gemeinsames – sie unterscheiden sich nicht grundsätzlich, sondern nur der Haltung nach. Es kommt noch ärger: Der negative Haltungsbezug ist nur die sprachliche Reproduktion der praktischen Negation, die die Warengesellschaft tagtäglich vor unseren Augen vollzieht. Sie versprachlicht das Irresein dieser Gesellschaft – immerhin, darin ist sie den Staatsfetischisten meilenweit voraus -, sie geht aber denkend nicht über sie hinaus. Will Wertkritik nicht zur bloßen Haltung werden, muss sie diese dualistische Denkform überschreiten: Es geht nicht darum, „positiv“ oder „negierend“ bzw. „negatorisch“ sein zu wollen, sondern darum, die alltägliche Negation eines menschlichen Gemeinwesens zu negieren. Nichts anderes kann „Aufheben“ bedeuten: Negation der Negation. [6]

Revolutionarismus vs. Neukonstitution

Es ist eine Zuspitzung von mir, Ernst Lohoff die im dialektischen Sinne bloß einfache oder unbestimmte Negation unterzuschieben – obwohl sein Text derart schwankend ist, dass sich eine solche Auslegung anbietet. Es gibt aber auch die Momente des darüber Hinausgehens. Das drückt in formelhaften Sätzen aus, etwa: „Beim Aufbau einer gesellschaftlichen Gegenstruktur und Demontage der Megamaschine handelt es sich nicht um Parallelprozesse, sondern um ein und denselben. So etwas wie Gegenstruktur und Ansätze nicht warenförmiger Reproduktion sind dem Angriff auf das Diktat der Wertform nicht vorausgesetzt, sie müssen mit ihm und in ihm entstehen.“ Prima – das trifft ziemlich genau das, was die Bewegung Freier Software macht: Sie hat eine eigene gesellschaftliche Gegenstruktur entwickelt, sie ist erfolgreich dabei, die Megamaschine proprietärer Software zu demontieren – und das nicht nur als praktischen Angriff auf das Diktat der Wertform, sondern auch noch im Zentrum der gesellschaftlichen Re/Produktion. Genau das ist aber nicht „strikt negatorisch“, sondern bedeutet „Negation der Negation“, Ansätze von Aufhebung, durch keimförmige Herausbildung einer neuen Form der Vergesellschaftung.

Um es deutlich herauszuheben: Es geht hier um zwei Denkweisen der gesellschaftlichen Transformation: um die blanquistische Revolutionsromantik der „Übernahme der ganzen Küche“ (staatsförmig oder nicht) oder die Aufhebung als Negation der Negation der warenförmigen Vergesellschaftung durch Konstitution einer neuen Form der Vergesellschaftung. Vielleicht kommt der Unwillen, die zwei Varianten zu denken, auch vom scheinbar friedlichen Übergang: „… falsche Assoziation einer mehr oder minder friedlichen Koexistenz von der Warenlogik unterworfener und von ihr befreiter Sektoren“. Da steckt zu wenig Widerstands- und Kampfesmetaphorik drin, das kann nichts sein. – Auf diese Idee kann jedoch nur kommen, wer die aktuellen Angriffe und Kämpfe nicht kennt, weil er sie nicht wahrnimmt – im zweiten Teil will ich darauf zurückkommen.

Keimform – muss denn das sein?

Bis hierhin sollte klar geworden sein, dass das Kategorienpaar der Produktivkraftentwicklung und der Vergesellschaftungsform die Inhalts- und Formseite der historischen Re/Produktion des gesellschaftlichen Lebens fasst, und dass dies weiterhin noch nichts darüber aussagt, ob dies bewusst oder bewusstlos geschieht, weil das erst die konkrete Analyse zeigen kann. Ferner ist behauptet, dass sich die Logik der historischen Entwicklung begreifen und also begrifflich rekonstruieren lässt. Schließlich gipfelt dies in der umstrittenen These, dass ein Begreifen dieser Entwicklungslogik hilft, die aktuellen Widersprüche zu untersuchen und auf Wege aus dem Kapitalismus hin abzuklopfen.

Ja, aber „Entwicklungslogik“ meint doch gerade einen „unbewussten Prozess“, den es endlich loszuwerden und durch einen „bewussten“ zu ersetzen gelte, oder? – Dieser kurzschlüssige Einwand geht von einem Begriff der „Entwicklungslogik“ aus, dergemäß nur die gleichsam informatische „wenn-dann-Abfolge“ zutrifft, als ob es sich um einen maschinellen Formalismus handelt. Er kennt nichts von einer Bewegung in Widersprüchen, die je historisch spezifisch Handlungsmöglichkeiten hervorbringt, die ergriffen werden oder nicht und die genau dadurch neue Möglichkeiten schaffen und andere verschließen. Was im Nachhinein wie eine notwendige Abfolge von historischen Prozessen erscheint, bedeutet je aktuell ein Feld von Möglichkeiten – womit über die Weite des Feldes noch nichts gesagt ist. Worum es also bei der Bewertung unser heutigen Situation geht, ist die Frage, wo das richtige Feld liegt und wie groß dort die Handlungsmöglichkeiten sind.

Die Frage nach dem richtigen Feld ist die Frage nach den Keimformen. Es ist die Frage nach den Handlungsmöglichkeiten, die in ein und demselben Prozess den „Aufbau einer gesellschaftlichen Gegenstruktur und Demontage der Megamaschine“ bedeutet. Es ist die Frage, die die „strikt negatorische“ Haltung überwindet und auf die Konstitution einer neuen Form der Vergesellschaftung abzielt. Sie ist so scharf zu stellen, und darum ist zu streiten, denn das ist die erkenntnisleitende Funktion des Keimform-Begriffes: Was konstituiert eine neue Form der Vergesellschaftung? Wo gibt es Ansatzpunkte? Wie kommen wir dahin?

Sind diese Fragen aber überhaupt beantwortbar? Es gibt Menschen, die das „der“ Revolution überlassen und dann in 15 Minuten lösen möchten. Ich meine aber, es geht gar nicht anders, als sich heute mit diesen Fragen auseinander zu setzen, auch wenn wir heute nicht entscheiden können, ob wir mit den Antworten richtig liegen. Wenn wir es jedoch nicht tun, dann stürzen wir blind in ein Abenteuer, hervorgerufen durch einen blinden Prozess, der in nichts anderem als in blinder Katastrophe enden kann. Jede Verweigerung bestätigt sich damit allerdings in ihrer Prognose der notwendig folgenden Zerfallsprozesse von Wertvergesellschaftung und -abspaltung – als ob dies jedoch ein Trost wäre.

Anti-Politik als Verhaltensvorschrift?

Martin Dornis (2002) hat im gleichen Streifzüge-Heft hervorgehoben: „Anti-Politik ist eine Möglichkeit“. Die von ihm genannten Handlungsmöglichkeiten sind fein, bleiben jedoch alle nur „einfach negativ“ bezogen auf das, was ist. Sie können nicht die „doppelte Negation“ vollziehen, weil sie keine konstitutiven Potenzen benennen. So muss es bei Beschwörungen bleiben, dass es doch die Anti-Politik „selbst“ seien möge, die die „befreite Gesellschaft Wirklichkeit werden lässt“. Wenn dabei jedoch nur ein Katalog von Verhaltensvorschriften herausspringt, was denn Anti-Politik alles verachtet oder noch darf oder unbedingt tun muss, dann liegt die Gefahr der Sektifizierung nahe: Gehörst du noch dazu oder nicht?

Wertkritik muss und kann einen Schritt weitergehen. Sie kann – zunächst auch einmal bloß „negativ“ – sagen, was nicht mehr Vergesellschaftungsprinzip sein kann: der „Wert“ mit all seinen „Aggregatzuständen“ und operativen Formen: Arbeit, Ware, Geld, Markt, Tausch, Staat. Damit ist die Negativbestimmung jedoch ausgereizt. Ist es möglich, weitere Kriterien oder Aspekte einer doppelten, einer bestimmten Negation, von Aufhebung, zu formulieren ohne mit einem Konzept einer „besseren Welt“ im Kopf in politischen Gestaltungswahn zu verfallen? Ich meine ja, und im folgenden soll es darum gehen. [7]

Überlegungen zur Konstitution einer neuen Form der Vergesellschaftung

Wenn von Gesellschaft die Rede ist, dann damit explizit von menschlichen Gesellschaften. Obgleich zwar die Vorstellung nichtmenschlicher, etwa tierischer „Gesellschaften“ sinnlos ist, bringt hier der bürgerliche Wissenschaftsbetrieb die absurdesten Stilblüten hervor. Weiterhin ist mit Gesellschaft nicht ein wie auch immer konstruierter identitärer Verbund von Menschen gemeint – etwa als Nationalstaat, Blutsbande, regionaler Haufen etc. -, sondern Gesellschaft meint den allgemeinen Vermittlungszusammenhang, den Menschen miteinander eingehen. Wenn in der Mehrzahl von Gesellschaften die Rede ist, dann bezieht sich das mithin nicht auf unterschiedliche identitäre Konstruktionen, sondern auf die historisch gewesenen, derzeit aktuellen und zukünftig möglichen unterschiedlichen Formen solcher Vermittlungszusammenhänge. Der Begriff der Vergesellschaftung fasst also die Art und Weise der Herstellung solcherlei unterschiedlicher Vermittlungszusammenhänge bei der Produktion des gesellschaftlichen Lebens. [8]

Als Vermittlung bezeichne ich Zusammenhänge von Menschen, die sie eingehen, um ihr Leben zu erschaffen und zu leben. Als „Mittler“ fungieren dabei völlig unterschiedliche „Medien“: kooperative Tätigkeit, Genuss von Geschaffenem, Kommunikation im weitesten Sinne, personale Beziehungen etc. Dabei bestimmt die Form des gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhangs, welche Form die je einzelnen „Vermittlungen“ annehmen können. So bekommt im Kapitalismus gesellschaftlich-durchschnittlich die kooperative Tätigkeit die Form der lohnvermittelten „Arbeit“, der Genuss von Geschaffenem die Form des marktvermittelten „Konsums“ etc. Dass Vermittlung stattfindet, ist genuin menschlich, welche Form sie annimmt, ist historisch spezifisch.

Der gesellschaftliche Mensch und die menschliche Gesellschaft sind zwei Seiten desselben Zusammenhangs. [9] So wie es keine nichtmenschliche Gesellschaft gibt, gibt es keinen nichtgesellschaftlichen Menschen. Dennoch geht beides nicht ineinander auf, und es ergibt sich nicht das eine aus dem anderen: Weder „ist“ die Gesellschaft die Summe der Menschen, noch legt die Gesellschaft das Sein des einzelnen Menschen fest – doch so „wie die Gesellschaft selbst den Menschen als Menschen produziert, so ist sie durch ihn produziert“ (Marx 1844, 537): Vermittlungszusammenhang bedeutet nicht Determinationszusammenhang, weder in die eine, noch in die andere Richtung.

Zwei Perspektiven

Mit dem Individuum als gesellschaftlichem Menschen und der Gesamtgesellschaft als Totalität des menschlichen Vermittlungszusammenhangs sind zwei Perspektiven zu unterscheiden und begrifflich zu fassen – ohne den Zusammenhang zu vereinseitigen oder gar zu zerreißen, wie in der disziplinären Zerstückelung der bürgerlichen Wissenschaften üblich. Folgende Aspekte des Mensch-Gesellschaft-Zusammenhangs lassen sich skizzieren.

Gesellschaft gibt es, solange es Menschen gibt. Die Gesellschaft besteht überhistorisch und überindividuell. Erst mit der (heute denkbaren) völligen Auslöschung jeglicher menschlicher Existenz hörte Gesellschaft auf. Sie ist in ihrer Existenz und Entwicklung nicht von konkreten Einzelnen festlegbar, eine unmittelbare Determination ist unmöglich. Dennoch entwickeln sich Gesellschaften, der Vermittlungszusammenhang der Menschen ändert sich beständig. Diese historische Änderung des menschlichen Vermittlungszusammenhangs, der Gesellschaft, geschieht „eigenlogisch“ in der oben genannten Dialektik von Produktivkraftentwicklung und Vergesellschaftungsform. Übersetzt heißt das: Die Menschen produzieren ihr gesellschaftliches Leben in qualitativ unterscheidbaren Formen der Vermittlung – bewusst oder unbewusst.

Die Gesellschaft, der gesamte menschliche Vermittlungszusammenhang, ist das Medium, in dem sich alle Menschen bewegen: Die je individuelle Existenz ist gesamtgesellschaftlich vermittelt. Die Fähigkeit, sich individuell in die Gesellschaft hineinzuentwickeln, sich zu vergesellschaften, ist Teil der menschlichen Natur: Nicht der ungesellschaftliche Mensch wird „sozialisiert“, sondern der gesellschaftliche Mensch schafft das „Soziale“ – bewusst oder unbewusst.

Bewusstheit und Bewusstlosigkeit der Vergesellschaftung

Bei dem beliebten Dualismus „Bewusstlosigkeit der Wertvergesellschaftung“ versus „bewusste Vergesellschaftung als Ziel“ werden die beiden analytischen Ebenen des Mensch-Gesellschaft-Zusammenhangs zusammengeworfen, indem einem gesellschaftlichen Prozess eine individualtheoretische Dimension zugeschrieben wird. Was ist eine bewusste/bewusstlose Vergesellschaftung? Soll das bedeuten, dass alle Menschen sich bewusst/los mit anderen vermitteln, also bewusst/los handeln? Oder soll es heißen, dass z. B. die Menschen zwar individuell bewusst handeln, sich diese Bewusstheit im Rahmen der Wertform gesellschaftlich als Bewusstlosigkeit herausstellt? Was wäre dann aber das Gegenteil, die gesellschaftliche Bewusstheit? Was wäre ein Maßstab von Bewusstheit, wie wäre entscheidbar, wann Bewusstheit hergestellt ist, oder gar: von wem? Was geschähe mit jenen, die sich die individuelle Freiheit der „Unbewusstheit“ nähmen, die also die Dinge einfach laufen ließen in einem wie auch immer gestalteten „bewussten“ gesellschaftlichen Gesamt? Sind das überhaupt die richtigen Fragen? Es sind in jedem Falle Fragen, denen in „strikt negatorischer“ Haltung nicht beizukommen ist. Sie müssen aber angegangen, sortiert, gestellt, verworfen, begründet, diskutiert werden, will Wertkritik vom bloßen Haltungsnegator zur Aufhebungstheorie gelangen.

Ich will den Gegensatz Bewusstlosigkeit vs. Bewusstheit der Vergesellschaftung übersetzen in die Denkform Vergesellschaftung dritter Person vs. erster Person. Was ist damit gemeint? Die fetischistische Vermittlung als real-abstrakte, entfremdete „Bewegung von Sachen“ (Marx) bezeichne ich als Vergesellschaftung über ein Drittes oder in dritter Person. Als diese dritte Person können wir das „automatische Subjekt“ der Wertverwertung identifizieren. Die real-abstrakte, bewusst-bewusstlose Form der entfremdeten Vermittlung gilt es aufzuheben durch eine Vermittlung erster Person, also durch die gesellschaftlichen Menschen selbst. Damit würde der gesamte Vermittlungszusammenhang auf der gesellschaftlichen Ebene überhaupt erst „bewusstseinsfähig“. Wie ist dieser Vermittlungszusammenhang jedoch zu konkretisieren?

Zunächst ist festzuhalten, dass gesellschaftliche Vermittlung die Vorstellung der personal-unmittelbaren Regulation der gesellschaftlichen Angelegenheiten logisch ausschließt. Dies deshalb, da personal niemals alle funktionalen gesellschaftlichen Bereiche, also niemals alle anderen Menschen, die diese ausfüllen, „unmittelbar“ erreichbar sind, sondern immer nur bestimmte Ausschnitte, bestimmte Menschen – abhängig von je meinem Ort und meiner Lebenslage im gesellschaftlichen Gesamt. Gegen eine personal-unmittelbare Regulation spricht auch, dass bestimmte gesellschaftliche Funktionen, die ich wahrnehmen möchte, nicht personal repräsentiert werden. So setzt etwa die Nutzung des Internets den Betrieb und die Instandhaltung der technischen Leitungsinfrastruktur voraus – ohne dass ich das personal jeweils täglich klären müsste, wer sich denn gerade darum kümmert etc.

Begrifflich ist demnach zu unterscheiden zwischen personaler und gesellschaftlicher Vermittlung bzw. Kooperation (vgl. dazu Meretz 2001b). Die personale Kooperation ist individueller Reichweite, die gesellschaftliche Kooperation ist überindividueller Natur. Das erste meint die personalen Handlungen, das zweite den allgemeinen gesellschaftlichen Zusammenhang der Vermittlung der Menschen. Eine personale Kooperation kann ich verlassen, die gesellschaftliche nicht.

Totalität der gesellschaftlichen Vermittlung

Verallgemeinernd können wir festhalten, dass sich die gesellschaftliche Vermittlung nicht aus der Summe der personalen Interaktionen „ergibt“. Vermittlung bedeutet, dass sich stets auch personal unabhängige Instanzen oder besser: Infrastrukturen herausbilden, die unabhängig von konkreten Einzelnen stabil funktionieren. Wie solche Infrastrukturen aussehen, welche gesellschaftliche Funktionen sie stabil bereitstellen, ist vom jeweiligen historischen Entwicklungsstand der Gesellschaft abhängig. Neben den „gegenständlichen“ Infrastrukturen und Kooperationen sind es vor allem die vielfältig konstituierten symbolischen Verweisungszusammenhänge (Sprache, Denkformen, Kunst, Kultur etc. ), die die überindividuelle Kontinuität und Stabilität der gesellschaftlichen Vermittlung begründen. Gegenständliche Infrastrukturen und symbolische Verweisungszusammenhänge bilden ein gesamtgesellschaftlich synthetisiertes Bedeutungsnetzwerk, das den Vermittlungszusammenhang ausmacht.

In diesem Vermittlungszusammenhang bewegen sich die einzelnen Menschen, indem sie ihn durch Teilhabe produzieren und reproduzieren: Sich mit anderen Menschen zu vermitteln, ist identisch mit der Re/Produktion des gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhangs selbst. Obgleich nur Ausschnitten des Vermittlungsgesamts zugekehrt, ist der Einzelne stets mit der Totalität der Gesamtgesellschaft konfrontiert, die sich in jedem Ausschnitt zeigt: Das individuelle Sein ist immer gesamtgesellschaftlich vermittelt. Das ist der logische Grund dafür, dass ein „Ausstieg aus der Gesellschaft“, auch nur ein partieller, nicht möglich ist. Und es ist der theoretische Hintergrund des Streits um die möglichen Wege des Aufhebungsprozesses: Revolutionarismus versus Neukonstitution.

Konstitutive Dynamik der gesellschaftlichen Vermittlung

Wie kommt es nun zu der beschriebenen gesamtgesellschaftlichen Synthese des Vermittlungszusammenhangs, was macht seine konstitutive Dynamik aus? Wie kann eine konstitutive Dynamik jenseits der Wertform aussehen?

Von der warenproduzierenden Gesellschaft wissen wir, dass es dort die „Verwertung von Wert“ ist, die den Kern der Vergesellschaftungsdynamik bestimmt. Zur Synthese des gesellschaftlichen Gesamts kommt es „hinter unserem Rücken“ durch die „unsichtbare Hand“ des Marktes, durch bewusst-bewusstlose Teilhabe an dieser Form der Re/Produktion, die jene ist, in der die Einzelnen ihr individuelles Leben erhalten. Wie kann nun eine gesamtgesellschaftliche Synthese der gegenständlichen und symbolischen Infrastrukturen als „bewusste“ Form vor „unser aller Augen“, als bewusste und gewusste Vergesellschaftung aussehen – wenn doch gleichzeitig eine personal-unmittelbare Regulation als Konstituens nicht denkbar ist?

Eine bewusst-gewusste Vergesellschaftung ist nur denkbar als Teilhabe an einem gesellschaftlichen Prozess, dessen konstitutive Dynamik nicht bestimmt und zugerichtet ist durch das „Prinzip dritter Person“ der Wertabstraktion, sondern durch ein „Prinzip vom Standpunkt erster Person“, der je individuellen Bedürfnisse. Dieses gesellschaftliche „Prinzip vom Standpunkt erster Person“ ist die „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (Marx, Engels 1848, 482). Diese „freie Entwicklung eines jeden“ oder „Selbstentfaltung“, wie sie im Oekonux-Projekt [10] genannt wird, ist dabei nicht denkbar als Entwicklung des isolierten Einzelnen, auch nicht als Summe unmittelbarer Interaktion und Kooperation jenseits gesellschaftlicher Vermittlung, sondern nur als unbeschränkte individuelle Teilhabe am Prozess der Vermittlung der kollektiven Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens.

Die vierte grammatikalische Person

Der „Standpunkt erster Person“, das Individuum, das Subjekt, ist ein Produkt von Moderne und bürgerlich-liberaler Ideologie. Ausgangspunkt dieser Ideologeme ist die Annahme eines ungesellschaftlichen Individuums, eines fiktiven Robinson, der bürgerlichen Waren-Monade. In einem „System ungesellschaftlicher Gesellschaftlichkeit“ (Lohoff) kann das Subjekt nur als identitäres Individuum Form annehmen.

Das wertförmig-identitäre „ich“ ist durch ein nichtidentitäres „ich“ aufzuheben. Denn wenn Selbstentfaltung ein Standpunkt erster Person ist, dann nur einer der ersten Person plural. Das ist jedoch kein – ebenso identitär – konstruiertes „wir“, sondern es ist das bereits verwendete „allgemeine ich“, das „je ich“ des gesellschaftlichen Menschen als gewissermaßen „vierte grammatikalische Person“. [11]

Teilhabe statt Unmittelbarismus

Die Unterschiede von „unmittelbarer Interaktion und Kooperation“ und „Teilhabe am gesellschaftlichen Prozess“ sind Perspektive und Reichweite. Während die unmittelbare Kooperation stets begrenzt ist auf das „operative Tun“ in „personaler Reichweite“, bedeutet Teilhabe am gesellschaftlichen Prozess ein Handeln in „überindividueller Reichweite“, vermittelt in und durch gesellschaftliche Infrastrukturen. Habe je ich mit meinen Handlungen am gesellschaftlich-kooperativen Prozess teil, dann gehe je ich notwendig solche kooperativen Beziehungen zu anderen ein, in denen meine Teilhabe möglich wird. Diese Beziehungen können sehr vielfältig sein, doch stets nutze und re/produziere je ich gesellschaftliche Infrastrukturen, die ich für meine Teilhabe brauche.

Teilhabe am gesellschaftlichen Prozess und Nutzung, Herstellung und Aufrechterhaltung von gesellschaftlichen Infrastrukturen sind ein Prozess. So ist es nur eine besondere Form der Teilhabe, nichts anderes zu tun, als Infrastrukturen herzustellen, die anderen die Teilhabe ermöglichen. Wenn Teilhabe und Re/Produktion der Teilhabe-Infrastrukturen der gleiche Prozess sind, dann stellt sich damit notwendig das her, was ich vorher „gesellschaftlicher Vermittlungszusammenhang“ genannt habe.

Vor diesem Hintergrund wird auch der Begriff der Entfremdung klarer. Unter den Bedingungen der Vergesellschaftung über ein drittes Prinzip fallen Vergesellschaftungsprozess als gesamtgesellschaftlicher Vermittlungsprozess und individuelle Teilhabe daran auseinander: Je ich stelle durch meine Teilhabe gesellschaftliche Infrastrukturen her, die mir oder anderen in der nächsten Minute ins Genick schlagen – ob ich das will oder nicht. Oder wie es Stefan Merten (2002) formuliert: „Entfremdung liegt dann vor, wenn ein Mensch (… ) nicht verantwortlich handeln kann.“ Umgekehrt kann nur verantwortlich handeln, wer über die eigene Teilhabe selbst und unbeschränkt verfügen kann, über den also nicht durch ein fetischistisches drittes Prinzip verfügt wird. Es geht mithin darum, Bedingungen zu schaffen, in denen es überhaupt erst möglich wird, verantwortlich zu handeln, also ein Bewusstsein in gesellschaftlicher Reichweite zu erreichen. Damit wäre auch der Verantwortungsbegriff der moraltriefenden Umklammerung durch den vorherrschenden Ethikdiskurs entrissen – aber das nur am Rande. [12]

Nun wird auch deutlicher, was es mit dem Verhältnis von Bewusstheit und Bewusstlosigkeit in der warenproduzierenden Gesellschaft auf sich hat. „Bewusst“ können einzig die unmittelbar kooperativen und interaktiven Beziehungen – etwa in der Lohnarbeit – gestaltet werden. Alle Verweise darauf, dass es sich dabei immer auch um Formen der Teilhabe und Re/Produktion des Wertverwertungsprozesses als Ganzem handelt, müssen verdrängt und unbewusst gehalten werden, indem die Erscheinung der Ökonomie als „zweite Natur“ für das Wesen genommen wird. Je stärker sich der gesellschaftliche Vermittlungszusammenhang als entfremdeter gegen die Menschen kehrt, desto mehr Energie muss individuell darauf verwandt werden, genau diese Tatsache unbewusst zu halten: Es kann niemand aushalten – und viele tun es ja auch nicht -, sich bewusst selbst zum Feinde zu werden, indem man genau die Bedingungen herstellt, unter denen man leidet. Gerade sensible Menschen zerbrechen daran, und es erscheint mir kein Zufall, dass viele linke historische Bewegungen sich in Härte, Aufopferung und Arbeitskult ergingen, um die strukturelle Selbstfeindschaft aushalten zu können.

Verhältnis von Unmittelbarkeit und Vermitteltheit

In der warenproduzierenden Gesellschaft geraten unmittelbar-personale und gesellschaftliche Kooperation in einen Widerspruch zueinander. Die Privatproduktion erfordert die unmittelbare Kooperation im Produktionsprozess, während sie gesellschaftlich die Produzenten voneinander trennt und erst über den Austausch a posteriori zusammenführt. Dieser Widerspruch prozessiert in Form der verselbstständigten Bewegung des Werts, die den Menschen eine entfremdete Form gesellschaftlicher Kooperation aufzwingt, über die sie nicht verfügen können, sondern die für sie die „Form einer Bewegung von Sachen (hat), unter deren Kontrolle sie stehen“ (Marx 1890). Jeder Versuch der „politischen Gestaltung“ auf gesellschaftlicher Ebene treibt den Widerspruch auf immer neue Spitzen, kann ihn aber niemals aufheben.

Doch auch unmittelbar-personal kann es – wie dargestellt – nicht gelingen, über den gesellschaftlichen Prozess zu verfügen. Der Widerspruch zwischen unmittelbar-personaler und gesellschaftlicher Kooperation erscheint so als Aufspaltung in zwei Sphären: der wertförmig-strukturierten, männlich konnotierten „öffentlichen“ und der wertabgespaltenen, weiblich konnotierten „privaten“ Sphäre (Scholz 2000). Diese Sphären sind jedoch nicht als abgrenzbare Orte zu verstehen, sondern als repressive Modi der Lebensbewältigung, die inzwischen beide „Orte“ der „Öffentlichkeit“ und „Privatheit“ durchziehen: das „ideale“ warenförmige Subjekt ist dasjenige, das es versteht, die „weiblichen Momente“ der wertabgespaltenen Sphäre für den Verwertungsprozess zu funktionalisieren und die „männlichen Momente“ der betriebswirtschaftlichen Rationalität für eine „Effektivierung“ der privat-individuellen Reproduktion. [13]

Der Widerspruch zwischen unmittelbarer und gesellschaftlicher Kooperation schlägt sich individuell nieder als Vertrauensverlust und latentes Gefühl der Bedrohung. Wenn die gesellschaftliche Re/Produktion „zusammenbricht“, dann ist trotz eines vollen Kühlschranks ein angstfreies und befriedigendes Kochen und Essen unter Freunden schwer möglich. Allgemeiner formuliert: Das Vertrauen in die Stabilität und Nachhaltigkeit des gesellschaftlichen Prozesses, der sich von meinem unmittelbaren Beitrag unabhängig vollzieht, aber durchschnittlich aus den Beiträgen aller konstituiert, ist Voraussetzung für ein individuell angstfreies und befriedigendes Leben.

Die unmittelbaren Interaktionen und Kooperationen der Menschen brauchen stabile gesellschaftliche Infrastrukturen, also das Vertrauen darin, dass die Teilhabeformen auch eine bewusste Teilhabe erlauben. Das „Perverse“ des Kapitalismus ist nicht nur, dass Teilhabe nur in entfremdeter, „verantwortungsloser“ Form möglich ist, sondern dass Millionen selbst noch von dieser entfremdeten Form der Teilhabe ausgeschlossen sind – und sich in der Regel „unmittelbar“ wünschen, wieder in die Form der entfremdeten Teilhabe und „Verantwortungslosigkeit“ zu gelangen.

Freie Vergesellschaftung

Aufgehoben werden kann der Widerspruch zwischen unmittelbarer und gesellschaftlicher Kooperation nur durch eine Aufhebung der Sphärenspaltung selbst, was identisch ist mit der Aufhebung der Vergesellschaftung über das Dritte des Werts. Diese Aufhebung kann sich nicht als „Stichtagsumstellung“ (Revolutionarismus), sondern einzig als Prozess der Neukonstitution einer anderen Form der Vergesellschaftung vollziehen. Denn in Anlehnung an Watzlawiks Kommunikations-Apriori „Man kann nicht nicht kommunizieren“ gilt auch: „Man kann nicht nicht kooperieren“, wenn es jeden Tag darum geht, das individuelle und gesellschaftliche Leben zu erschaffen. Es ist nicht möglich, die eine Form der Kooperation „abzuschaffen“, ohne gleichzeitig eine neue Form jenseits des Werts wenigstens schon ansatzweise entfaltet zu haben.

In der freien Vergesellschaftungsform wird das Vertrauensnetz durch das Handeln der Menschen erzeugt. Das „Prinzip dritter Person“, die Entfremdung in der Wertvergesellschaftung, ist ersetzt durch das „Prinzip erster Person“, die Selbstentfaltung. Ist dem „Prinzip dritter Person“ eigen, dass je ich mich nur auf Kosten anderer durchsetzen kann, so erfordert das „Prinzip erster Person“ je meine Entfaltung als Voraussetzung für die Entfaltung aller und vice versa. Die Heraushebung „des Menschen“ ist also keine idealistische Anrufung eines „guten Kerns“ oder die Forderung nach einer „neuen Ethik“, sondern die (hier notwendig theoretische) Begründung dafür, dass es keines „externen Dritten“ bedarf, der es Menschen ermöglicht, ihre Gesellschaftlichkeit auch zu realisieren.

Keimform oder nicht

Hier kommt der Debatte um Keimformen eine zentrale Rolle zu. Die Frage nach dem Charakter eines Versuchs zum „Ausbruch aus der Warenform“ ist identisch mit der Frage nach den Formen einer anderen Vergesellschaftung. Ob einem Projekt Keimform-Charakter zukommt, ist nicht an den Oberflächenerscheinungen des Projekts ablesbar – etwa der besonderen Radikalität der Forderungen („Gegen Deutschland, für den Kommunismus“), der Heftigkeit der Auseinandersetzung (Steinewerfen, Sabotage etc. ), der Massenhaftigkeit der Aktionen (Millionen gegen den Krieg) oder besonderen der Bewusstheit der Beteiligten (Intellektualismus als Voraussetzung). Solche Erscheinungen können auftreten oder wünschenswert sein, aber es bleiben Erscheinungen der jeweils aktuellen Kämpfe mit den Hütern der Warenform. Denn wie das Beispiel der Freien Software zeigt, kann der Kampf auch auf völlig anderen, eher unsichtbaren Feldern toben (mehr dazu im Teil 2).

Aufgabe des Keimform-Begriffes ist auch nicht, „objektiv“ entscheidbar zu machen, welches die „richtige Linie“ ist. Es geht nicht um die Einsicht in den „objektiven Verlauf der Geschichte“, zu dessen Exekutoren wir uns nur noch aufschwingen müssten. Der Keimform-Begriff taugt auch nicht dazu, Handlungen als „gut“ oder „schlecht“ zu qualifizieren. Er dient einzig dazu, ein Projekt danach zu befragen, ob es konstitutive Potenzen einer anderen, freien Form der Vergesellschaftung birgt oder nicht.

Der Keimform-Begriff hat also eine erkenntnisleitende Funktion für das jeweilige Projekt selbst. Er zielt auf den Prozess der Bewegung in der widersprüchlichen warengesellschaftlichen Realität – und nicht auf die verdinglichten Formen, die in der Bewegung hervorgebracht werden. So wäre es absurd, etwa den Streifzügen vorzuwerfen, sie würden „Geld einnehmen“, wo es doch darum ginge, dasselbe abzuschaffen. Es kann aber sinnvoll sein, die Streifzüge nach dem Umgang mit „Knappheit“ zu befragen: Wird durch das künstliche Knapphalten der Streifzüge-Ausgaben im Internet (nur die jeweils vorletzte Nummer ist verfügbar) nicht jene Logik der Exklusion reproduziert, die die Konstitution von Neuem, die nur eine Inklusionslogik sein kann, a priori unterminiert, also Formen schafft, in denen wir uns gegenseitig ausschließen?

Die Bewegung Freier Software hat diese Frage mehrheitlich deutlich zugunsten einer Inklusionslogik beantwortet. Sie hat intuitiv verstanden, dass zwar die Rechner gekauft werden müssen, die Software aber nicht knapp sein darf, um die Dynamik der Wissensproduktion in Gang zu setzen – jenseits der Wertform. Sie konstituiert darin den Kern einer neuen Form der Vergesellschaftung, die auf Selbstentfaltung des gesellschaftlichen Menschen und kollektiver Selbstorganisation basieren – nicht, weil die Leute in der Freien Software bessere Menschen wären, sondern weil es nur so überhaupt noch geht.

Anmerkungen

[1] Alle Zitate ohne Quellenhinweis beziehen sich auf Lohoff 2002.

[2] Eine gute Informationsquelle ist „Free/Libre and Open Source Software: Survey and Study“, www.infonomics.nl/FLOSS/report. Zur allgemeinen Lage von der Beschäftigten des IT-Bereiches vgl. www.labournet.de/tech.

[3] Wie bereits in Meretz 2001a ausgeführt, bringt es der „doppelte Marx“ mit sich, dass sich reichlich Anknüpfungspunkte finden lassen, die sowohl einen verdinglichten Produktivkraftbegriff wie auch eine Kurzschließung der Vergesellschaftungsform mit der Eigentumsfrage nahelegen.

[4] In dem von Ernst Lohoff kritisierten Aufsatz habe ich explizit den traditionellen Begriff der „Produktionsverhältnisse“ verworfen. Es macht nicht wirklich Spaß, ihn einfach wieder untergeschoben zu bekommen, um dann dafür Dresche einzustecken – und dies dann noch in einer völlig irrigen Argumentation: Der traditionsmarxistische „Widerspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen suggeriert“ mitnichten eine „von der gesellschaftlichen Form unabhängige Entwicklung“, im Gegenteil: Es ist dies genau die klassische Denkform, wonach in dem genannten Widerspruch die PV die gesellschaftliche Form bestimmen. – Noch einmal nachlesen: Meretz 2001a.

[5] Ein Versuch des Herausruderns aus der Falle der einfachen Negation ist der Aufsatz „Anti-Politik ist eine Möglichkeit“ von Martin Dornis in der gleichen Ausgabe der Streifzüge (3/2002).

[6] Das negierte Negative, das Aufgehobene, darf in einer freien Gesellschaft dann gerne „positiv“ genannt werden – aber bitte erst dann.

[7] Ich versuche damit die Ideen aus „Den Traditionsmarxismus aufheben“ (2002), insbesondere ab Absatz 40, weiterzutreiben. Online: www.opentheory.org/kw48_01-3/text.phtml#40. Da nicht selbstverständlich ist, was „Vergesellschaftung“ und „Gesellschaft“ überhaupt begrifflich fassen, seien zunächst meine Bestimmungen dieser Begriffe vorgestellt.

[8] Damit sollte auch klar sein, das „Vergesellschaftung“ hier nicht die traditionsmarxistische „Verstaatlichung“ (der Produktionsmittel) meint.

[9] „Es ist vor allem zu vermeiden, die „Gesellschaft“ wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren. Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen. Seine Lebensäußerung – erscheine sie auch nicht in der unmittelbaren Form einer gemeinschaftlichen, mit andern zugleich vollbrachten Lebensäußerung – ist daher eine Äußerung und Bestätigung des gesellschaftlichen Lebens. Das individuelle und das Gattungsleben des Menschen sind nicht verschieden, so sehr auch – und dies notwendig – die Daseinsweise des individuellen Lebens eine mehr besondere oder mehr allgemeine Weise des Gattungslebens ist, oder je mehr das Gattungsleben ein mehr besonderes oder allgemeines individuelles Leben ist.“ (Marx 1844, 538f. )

[10] Das Oekonux-Projekt fragt nach der gesellschaftlichen Verallgemeinerbarkeit der Prinzipien Freier Software: www.oekonux.de.

[11] Dieser Hinweis stammt von Benni Bärmann: www.opentheory.org/vergesellschaftung/v0001.phtml#34.1

[12] „Verantwortung“ ist also nicht das moralische zuständig machen des isolierten Einzelnen, der Waren-Monade, für die Folgen eines Prozess, der außerhalb der eigenen Zuständigkeit und Verfügung liegt. Das heute einzig mögliche „verantwortliche Handeln“ besteht darin, für die Aufhebung der Entfremdung, der strukturellen „Verantwortungslosigkeit“ der Wertvergesellschaftung zu sorgen.

[13] Vgl. den postmodernen Roman von Händler (2002): „was ist der Mensch? ein haufen fleisch, in geld eingewickelt? “ Händler ist Unternehmer und schreibt aus Erfahrung, vgl. dazu www.3sat.de/kulturzeit/lesezeit/39855

Literatur

Dornis, M. (2002), Anti-Politik ist eine Möglichkeit, in: Streifzüge 3/2002, 1-4.

Händler, E. -W. (2002), Wenn wir sterben, Frankfurt/M. : Frankfurter Verlagsanstalt.

Lohoff, E. (2002), Die Ware im Zeitalter ihrer arbeitslosen Reproduzierbarkeit. Zur politischen Ökonomie des Informationskapitalismus, in: Streifzüge 3/2002, 29-36.

Marx, K. (1844), Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: Marx, K. , Engels, F. (1968), Werke, Ergänzungsband, 1. Teil, S. 465-588, Berlin (DDR): Dietz.

Marx, K. (1890), Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, 4. Aufl. , in: Marx, K. , Engels, F. (1962), Werke, Band 23, Berlin (DDR): Dietz.

Marx, K. , Engels, F. (1848), Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx, K. , Engels, F. (1972), Werke, Band 4, Berlin (DDR): Dietz.

Merten, S. (2002), Eigentum und Produktion am Beispiel der Freien Software, Beitrag zum Rosa-Luxemburg-Preis 2003, online: www.opentheory.org/eigentum/text.phtml

Meretz, S. (2001a), Produktivkraftentwicklung und Aufhebung. Die „Keimform-Hypothese“ im Diskurs. Meta-Replik zu C. Fuchs: „Die IdiotInnen des Kapitals“ in Streifzüge 1/2001.

Meretz, S. (2001b), Der wilde Dschungel der Kooperation, erscheint 2003 in einem Sammelband mit Texten zur „Theorie der Freien Kooperation“ von Christoph Spehr, online: www.opentheory.org/dschungel/text.phtml.

Meretz, S. (2002), Den Traditionsmarxismus aufheben, in: Materialien der KW 47/2001, Essen: Zirkular im Eigendruck, online: www.opentheory.org/kw48_01-3/text.phtml

Scholz, R. (2000), Das Geschlecht des Kapitalismus. Feministische Theorien und die postmoderne Metamorphose des Patriarchats, Bad Honnef: Horlemann.

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